24. April 2024

1984 –> „2084 – Das Ende der Welt“ von Boualem Sansal

Je mehr man die Menschen klein macht, je mehr sehen sie sich groß und stark. Ist die Stunde des Hinscheidens gekommen, entdecken sie entgeistert, dass das Leben ihnen nichts schuldet, denn sie haben ihm nichts gegeben.

Als Anknüpfung an George Orwells „1984“ ist dieser Roman gedacht. Und er zeichnet eine düstere Dystopie einer Welt, in der eine Religion benutzt wird, um das gnadenlose Raster einer Gesellschaftsordnung im Dienste eines machtbesessenen Regimes zu legitimieren. Selbst die Geschichtsschreibung und geografische Grenzen sind dem totalitären System geopfert worden. Tages- und wochenbestimmende Rituale beherrschen das Leben der Menschen in Abistan, der Umgang untereinander ist bis ins Kleinste vorgeschrieben. Zuwiderhandlungen werden auf das Härteste bestraft, die Todesstrafe und Folterung sind probate Mittel, um jedem klar zu machen, dass Abweichler und auch nur systemkritische Gedanken keinen Platz in dem grenzenlosen Land haben. Sittenüberwacher kontrollieren selbst den privatesten Bereich des Einzelnen, Gerüchte über Wesen, die sogar die Gedanken scannen können, sorgen für eine eindeutige Ausrichtung der Menschen und ihres Lebens. Monatlich wird die moralische Gesinnung jedes Einzelnen überprüft; das Ergebnis entscheidet sogar über die Höhe des Lohnes. Freundschaften oder auch nur nähere Kontakte untereinander sind nicht erwünscht, ein Kastenwesen sorgt dafür, dass auch Menschen unterschiedlicher Schichten keine Berührungspunkte haben.

Der Protagonist Ati kehrt nach einer überstandenen Tuberkulose-Erkrankung aus dem Sanatorium nach Hause zurück. Dort hatte er Zeit und Muße zu beobachten und nachzudenken, und trotz aller Ängste entwickelt er quälende Zweifel, entdeckt Widersprüchlichkeiten, die ihn beunruhigen. Er begibt sich mit einem Freund auf einen gefährlichen Weg, irgendwann nicht mehr wissend, wem er vertrauen kann und von wem Unheil zu erwarten ist. Er entdeckt Verbotenes, Spuren aus anderen Zeiten, aus anderen Zivilisationen, wird tief verunsichert und kann sich letztlich doch seinem eigenen Mensch-Sein nicht entziehen.

 

Der algerische Schriftsteller Sansal verdichtet seinen Roman zu einer komplexen Darstellung eines totalitären Herrschaftssystems, das sich einer Religion bedient. Er beschreibt hierbei bis ins Detail die Ausrichtung dieses Sozialkonzepts:

In seiner grenzenlosen Kenntnis des Kunstgriffs hat das System früh erkannt, dass die Heuchelei den vollkommenen Gläubigen ausmacht, nicht der Glaube, der durch seine unterdrückende Natur den Zweifel nach sich zieht, ja die Revolte und den Wahn. Es hat auch verstanden, dass die wahre Religion nichts anderes sein kann als eine wohlgeregelte, zum Monopol erhobene und durch allgegenwärtigen Terror aufrechterhaltene Frömmelei. „Da es in der Praxis auf das Detail ankommt“, ist alles kodifiziert worden: von der Geburt bis zum Tod, vom Sonnenaufgang bis zum Sonnenuntergang ist das Leben des perfekten Gläubigen eine ununterbrochene Folge von zu wiederholenden Gesten und Worten, sie lässt ihm keinerlei Spielraum, um zu träumen, zu zögern, nachzudenken, eventuell abweichend zu glauben, zu glauben vielleicht.

Foto: Merlin Verlag
Foto: Merlin Verlag

Der Roman ist damit eine fast philosophische Betrachtung der Werkzeuge dieses Regimes. Er betrachtet genau die Manipulationen, mit denen die Menschen perfide zu dem gebracht werden, was von ihnen erwartet wird. Ob es das Erzeugen künstlicher Feindbilder ist, um eine höhere Identifikation mit dem Regime zu erreichen, ob es das Leugnen von Landesgrenzen ist oder einer Historie, die vor dem großen Sieg Abistans existiert haben könne, Sansal breitet vor dem Leser ein genau ausgearbeitetes System aus, das bis zur Manipulation der tiefsten seelischen Vorgänge und die Gedanken des Einzelnen durchorganisiert ist. Wunderbar einleuchtend wird dies beispielhaft in der Beschreibung der Sprache deutlich:

Hatten manche gedacht, mit der Zeit und dem Reifen der Zivilisationen würden die Sprachen länger werden, an Bedeutung und Silben gewinnen, so trat genau das Gegenteil ein: Sie waren kürzer geworden, waren eingeschrumpft, hatten sich auf Onomatopöien und Ausrufe reduziert, wenig dichte zudem, die wie primitive Schreie und Geröchel klangen, was in keiner Weise erlaubte, komplexe Gedanken zu entwickeln und auf diesem Weg zu höheren Universen zu gelangen. Am Ende der Tage wird Schweigen herrschen, ein schwerwiegendes, es wird das ganze Gewicht der seit dem Beginn der Welt verschwundenen Dinge tragen und das noch schwerere der Dinge, die nicht ans Licht gekommen sein werden mangels sinnvoller Wörter, um sie zu bezeichnen.

Die ungeheure Komplexität dieser Szenerie, oft unterstützt durch sehr lange und mit vielen Fremdwörtern durchsetzten Sätzen, ist schwere Kost. Oft genug bin ich beim Lesen an einem Absatz hängen geblieben, habe ihn mehrfach gelesen, „durchkauen und verdauen“ müssen. Sansal gelingt es damit, sehr anschaulich die Atmosphäre einer solchen Dystopie darzustellen.

Leider geht dies zulasten des Plots und der Protagonisten, die meist blass bleiben und wenig plastisch für den Leser werden. Der Plot ist im Grunde in wenigen Dutzend Seiten zusammengefasst. Dennoch ist dieses Buch absolut lesenswert, denn Sansal nimmt den Leser mit auf dem Weg, das komplexe Szenario eines ideologiebezogenen totalitären Systems zu durchdringen – klug und erschreckend.

Die sprachliche und ideelle Nähe des dargestellten Systems zum Islamismus ist unverkennbar. Sansal ist auch als heftiger Kritiker des Islamismus bekannt, sieht jedoch jede Form von Religion, deren Anhänger ein Gesamtsozialkonzept auf Grundlage ihrer Religion entwickeln und absolutistisch durchsetzen wollen, als große Gefahr:

Die Religion erscheint mir sehr gefährlich wegen ihrer brutalen, totalitären Seite. Der Islam ist ein furchteinflößendes Gesetz geworden, das nichts als Verbote ausspricht, den Zweifel verbannt und dessen Eiferer mehr und mehr gewalttätig sind. Er muss seine Spiritualität, seine wichtigste Kraft, wiederfinden. Man muss den Islam befreien, entkolonisieren, sozialisieren.

(aus: L’Express, Boualem Sansal : „Il faut libérer l’Islam“, Interview mit Marianne Payot vom 14. August 2011. – Wikipedia, 06.07.2016)

Ein absolut lesenswertes Buch, für das man sich Zeit nehmen sollte!

Boualem Sansal: 2084 – Das Ende der Welt

Merlin Verlag

ISBN 978-3-87536-321-0

281 Seiten

 

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Über Andrea Daniel 61 Artikel
Bibliophil, kunstaffin und reisebegeistert bloggt Andrea über Bücher, Bücherreisen und anderes.