19. April 2024

Fragmente – „Geister“ von Nathan Hill

Wenn man in einer Buchhandlung in der Lebenshilfe- und Ratgeberabteilung stöbert, findet man zahlreiche Bücher, die „authentisches und wahrhaftiges Leben“ versprechen. Das „normale“ Leben mit einem eher unaufgeregten Job, Partnerschaft, möglicherweise Kindern, Eigenheim, Garten und der Mitgliedschaft in einem Sportverein scheint unter dem Verdacht zu stehen, ein Ausdruck des Wegs des geringsten Widerstands zu sein, sich nur den gesellschaftlichen Vorstellungen angepasst zu haben und an sich und seinen Möglichkeiten vorbei zu leben. Es gilt, sich selbst auf die Spur zu kommen und endlich in seinem wahren Leben anzukommen. Ein aufregenderes Leben voller Momente des Staunens und der Erfüllung.

Nathan Hill lässt seinen Roman „Geister“ mit der bekannten buddhistischen Geschichte beginnen, der zufolge mehrere Blinde unterschiedliche Körperteile eines Elefanten betasten. Jeder kommt zu anderen Schlussfolgerungen, wie ein Elefant denn nun beschaffen sei. Alle beschreiben das, was sie erfahren, als ihre Wahrheit – und alle erfassen nur einen Teil der Wahrheit.

Wundern wird sie sich, dass sie zwei so verschiedene Personen sein kann: die wirkliche Faye und die andere, die ungestüme, angriffslustige, impulsive Faye. Und während die Jahre vergehen und ihre Tage im Einerlei von Hausarbeit und Kindererziehung versinken, wird sie so oft an diese Nacht denken, dass sie sich schließlich wirklicher anfühlt als ihr wirkliches Leben. Sie wird zu glauben beginnen, dass ihre Existenz als Frau und Mutter nichts als eine Illusion ist, die Fassade, die sie in der Welt präsentiert, und dass die Faye, die auf dem Boden der St. Peter´s Church zum Leben erwachte, ihr wahres, authentisches Ich ist, und dieser Glaube wird sie derartig ausfüllen und so völlig durchdringen, dass er sie am Ende überwältigt.

Samuel Anderson lebt unauffällig als Literaturprofessor in Chicago. Einst träumte er davon zu schreiben; ein großer Vertrag mit einem Verlag schien diesen Weg in schillernden Farben vorzuzeichen. Aber er scheitert, sein Buch wird nie geschrieben. Und so lebt Samuel zurückgezogen, sein Privatleben besteht größtenteils aus Computerspielen, bei denen er sich in einer virtuellen Fantasiewelt als großer Kämpfer und Held beweist.

„Ein Spiel zeigt dir immer, wie du gewinnen kannst, das richtige Leben nicht. Ich habe das Gefühl, im Leben verloren zu haben, ohne dass ich wüsste, warum.“

Als Samuel elf war, hat seine Mutter Faye ihn ohne eine Erklärung verlassen, seitdem hatten sie keinen Kontakt mehr. Bis diese bei einer Wahlkampfveranstaltung den Präsidentenkandidaten der Republikaner attackiert und Samuel wenige Tage später einen Anruf ihres Anwalts erhält. Nach zwei Jahrzehnten sieht er seine Mutter wieder. Aus etwas unlauteren Motiven beginnt er, sich für ihre Geschichte zu interessieren. Und erfährt von ihren Irrungen und Wirrungen, dem Großvater, der seine ganz eigenen Geister von Norwegen nach Amerika emigrierte und an seine Nachkommen weitergibt.

Faye ist eine intelligente Schülerin, sie erhält ein Vollstipendium für ein Studium in Chicago. Da ist aber auch noch Henry, der Mann, der ihr noch vor dem ersten Kuss einen Heiratsantrag macht und es genauso wenig wie ihr Vater schätzt, dass sie auch nur über ein Leben nachdenkt, in dem sie nicht ausschließlich Hausfrau und Mutter ist. Faye ist hin- und hergerissen, die Beziehung zu Henry fühlt sich nur lauwarm an. Also geht sie nach Chicago, und in den Wirren der Straßenschlachten 1968 lernt sie andere Facetten ihrer selbst und neue Möglichkeiten einer Lebensausrichtung kennen. Und dennoch: sie kehrt zurück, heiratet, Samuel kommt zur Welt. Aber sie zweifelt… Und Samuel kämpft ebenfalls. Freunde zeigen ihm Möglichkeiten auf, er zaudert. Der Vertrag mit einem Verlag öffnet ihm das Tor zu einer möglichen Schriftstellerkarriere – er lässt es zufallen. Begnügt sich mit dem Kleinen, Überschaubaren. Bis sich zeigt, dass auch dies fragil ist.

(…) alles, was ihm blieb, war der Traum, wie das Leben sein könnte, wenn sich alles etwas anders ergeben hätte.

Bild: Piper Verlag
Bild: Piper Verlag

Nathan Hill´s Debütroman erzählt die Geschichte einer Familie und der Geister, die sie verfolgen. Er erzählt von Verstrickungen, von verpassten Chancen, denen man hinterher trauert, von der Frage, welches Leben zu einem passt und wie es sich entwickelt hätte, hätte man andere Entscheidungen getroffen.

Hill schreibt äußerst lebendig, nach wenigen Dutzend Seiten hatte mich dieses Buch so gefangen genommen, dass ich mich auf jede weitere Lesestunde gefreut habe. Dabei ist es nicht nur die Sprache, die den über 860 Seiten starken Roman so lesenswert macht. Die Protagonisten sind gut gezeichnet, ihre komplexen, teilweise widersprüchlichen Charaktere überzeugend und nachvollziehbar dargestellt. Hill spielt mit unterschiedlichen Stilen. So wendet er sich in einem Kapitel direkt an seinen Protagonisten. Ein anderes besteht aus einem einzigen Satz – über 15 Seiten lang. Die Straßenschlachten 1968 in Chicago beschreibt Hill in vielen kurzen, meist nur anderthalb Seiten umfassenden Kapiteln, sodass man noch mehr spürt, wie sich die Ereignisse überschlagen. Hill springt in unterschiedliche Zeitebenen und wechselt in die Perspektiven der einzelnen Protagonisten. Äußerst geschickt verwebt er hierbei die Erzählstränge miteinander und führt nach und nach die Geschichten zusammen.

Dieses Buch habe ich genossen. Es ist sprachlich abwechslungsreich gestaltet. Nathan Hill weiß zu erzählen und den Spannungsbogen aufrecht zu erhalten, sodass ich trotz der Länge des Romans ein Bedauern verspürt habe, als ich auf der letzten Seite angelangt war. Es ist aber nicht nur der gute Unterhaltungswert, den dieses Buch ausmacht. Hill zeigt unaufgeregt eine der Fragen auf, die wohl jeden irgendwann einmal umtreibt: Lebe ich das Leben, das ich leben will? Oder werde ich hochgradig fremdbestimmt und von wem oder was? Was für Vorteile hat dies? Und was ist eigentlich „mein wahres“ Leben?

Was in der Geschichte von den blinden Männern und dem Elefanten für gewöhnlich übersehen wird, ist der Umstand, dass die Beschreibungen der Männer richtig waren. Was Faye nicht versteht und vielleicht niemals verstehen wird, ist, dass es nicht das eine wahre Ich gibt, das sich hinter den vielen falschen Ichs versteckt. Sie ist eine lammfromme, schüchterne, fleißige Studentin. Ein ängstliches, verschrecktes Kind. Eine dreiste, impulsive Verführerin. Eine Frau, eine Mutter. Und noch vieles andere. Ihr Glaube, dass nur eines dieser Ichs ihr wahres ist, verschleiert die größere Wahrheit, die am Ende auch das Problem der Blinden mit dem Elefanten war. Es war nicht ihre Blindheit, sondern dass sie sich zu früh zufriedengegeben haben und damit nie erfuhren, dass es eine größere Wahrheit gab.

Und so werde auch ich wohl nur ein Fragment dieses Romans dargestellt haben. Ein anderes kann man beispielsweise bei letteratura nachlesen.

Wir danken dem Piper Verlag für die Überlassung dieses Rezensionsexemplars.

 

Nathan Hill: Geister

Piper Verlag

864 Seiten

ISBN: 978-3-492-05737-0

 

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Über Andrea Daniel 61 Artikel
Bibliophil, kunstaffin und reisebegeistert bloggt Andrea über Bücher, Bücherreisen und anderes.