29. März 2024

„Ich habe einen Namen“ von Lawrence Hill: Entwurzelung, Entfremdung, Entmenschlichung

Foto: A. Daniel

Lasst mich mit einer Warnung an all die beginnen, die auf diese Seiten stoßen. Traut keinen großen Wassern und überquert sie nicht. Wenn du, lieber Leser, eine afrikanische Färbung hast und man bringt dich an eine weite Küste, verteidige deine Freiheit mit allen nötigen Mitteln. Entwickle ein Misstrauen gegen die Farbe Rosa. Rosa wird für die Farbe der Unschuld gehalten, die Farbe der Kindheit, aber wenn sie sich im Licht der ersterbenden Sonne über das große Wasser breitet, folge nicht ihrem Pfad. Direkt darunter liegt der bis ins Unendliche reichende Friedhof von Kindern, Müttern und Männern. Ein Schauder erfasst mich, wenn ich an all die Afrikaner denke, die dort unten herumtreiben. Bei jeder neuen Fahrt über den Ozean hatte ich das Gefühl, über unbegrabene Tote hinwegzugleiten.

Aminata Diallo ist das einzige Kind ihrer westafrikanischen Eltern. Ihre Mutter ist als Hebamme hochangesehen im Dorf und Aminata beginnt, in ihre Fußstapfen zu treten. Die Familie und die Dorfgemeinschaft umfasst die Menschen, die Aminata kennt, der Rhythmus der Natur bestimmt ihrer aller Leben. Bis eines Tages das Dorf überfallen wird. Viele sterben, viele werden verschleppt. Darunter die elfjährige Aminata. Nackt und ohne jeden Schutz treten die Verschleppten einen monatelangen Gewaltmarsch an, bis sie vor dem „großen Wasser“ verschifft und nach Amerika gebracht werden – die britischen Kolonien brauchen dringend Nachschub an Sklaven. Ab diesem Moment ist Aminata ein Mensch niederer Klasse, ihre Arbeitskraft ist das Einzige, was zählt. Ebenso ergeht es ihren Nachbarn und Freunden: Gnadenlos wird über Bord geworfen, wer zu schwach ist. Sie unterliegen der Willkür der weißen Männer, die nach Lust und Laune misshandeln, vergewaltigen und töten. Sie sind nur noch eine Masse an menschlichen Produkten, die auf den Sklavenmarkt einen möglichst hohen Preis erzielen sollen. Der Einzelne zählt nicht, hat keinen Namen, der ihn individualisiert.

In Amerika angekommen wird Aminata Sklavin auf einer großen Farm. Ihre Kenntnisse der Geburtshilfe und ihre rasche Auffassungsgabe ermöglichen es ihr zu überleben und immer mehr über ihre Herren zu erfahren. Sie lernt nicht nur die fremde Sprache, sie lernt auch lesen und schreiben. In einem eng begrenzten Rahmen scheint sie zunächst ihr kleines Glück zu finden – um dann doch wieder zu erfahren, dass sie ganz und gar der Willkür ihres Herren ausgesetzt ist. Nie vergisst sie ihre Herkunft, immer ist ihr Ziel die Rückkehr in ihre Heimat. Ein Freund ihres Herren kauft sie diesem aus Mitleid ab, Aminatas Leben scheint leichter zu werden. Als ihr neuer Herr sie mit nach New York nimmt, gelingt ihr in den beginnenden Unruhen des Unabhängigkeitskriegs die Flucht. Hier findet sie Anschluss an die Abolitionisten, die die Sklaverei als unmoralisch verurteilen und für ihre Abschaffung kämpfen. Mit ihrer Hilfe gelingt es Aminata, Amerika zu verlassen und einen Neuanfang in Neuschottland zu wagen. Doch der Preis ist hoch: Sie lässt ihren Sohn zurück und auch die Zukunft ihres Ehemanns ist ungewiss. Das Leben in der neuen Kolonie ist hart, nicht alle weißen Nachbarn begrüßen die nun freien Afrikaner. Und so zeigt sich, dass auch dieser Ort nur eine Etappe ist auf dem Weg in die Heimat, die Aminata nie vergisst. Sie schließt sich den Menschen an, die Ende des 18. Jahrhunderts nach Freetown (im heutigen Sierra Leone) segeln und sich dort niederlassen – ausgerechnet in unmittelbarer Nähe des Umschlagplatzes für Sklavenhandel, der unvermindert weiter blüht. Aminata sieht sich selbst in den Menschen, die, brutal aus ihren Heimatdörfern verschleppt, einem ähnlichen Schicksal entgegen sehen wie sie Jahrzehnte zuvor. Ihr letzter Versuch, ihr Heimatdorf zu erreichen, scheitert. Fortan setzt sie sich den Rest ihres Lebens an der Seite der Abolitionisten für die Abschaffung der Sklaverei ein.

 

Ich hatte durchaus schon einige Bücher über die Sklaverei gelesen, schon in der Kindheit hat mich „Onkel Tom´s Hütte“ begleitet. Aus der heutigen Sicht unvorstellbare Rechtfertigungen für die unwürdige Behandlung von Menschen, denen das Mensch-Sein zum Teil aberkannt wurde, ließen mir damals kalte Schauer über den Rücken laufen in der wohligen Annahme, dass heute alles anders sei. Dennoch war mir über die Sklaverei als einem wichtigen Motor der Wirtschaftskraft der neuen Kolonien in Amerika nicht wirklich viel bekannt. Mit „Ich habe einen Namen“ hatte ich ein Buch in der Hand, das nicht nur das Leben der Sklaven beschreibt, sondern an dem Schicksal der (fiktiven) Figur Aminata schon dort ansetzt, wo die Menschenhändler ihr „Kapital“ für den Sklavenmarkt rauben. Die Entwurzelung der Menschen, die bisher in ihrer Dorfgemeinschaft eingebunden und höchstens zum Nachbardorf gelangt waren, die Entmenschlichung, indem man sie auf ihre Zweckmäßigkeit reduziert, die unmenschliche Behandlung, die sie oft bei ihren Herren erfahren, die dies mit einer „Hierarchie“ unter den menschlichen Rassen rechtfertigen, wird in diesem Roman in einer Art und Weise vorgestellt, die mir tief unter die Haut ging. Die Protagonistin ist als klare und starke Persönlichkeit gezeichnet, die keinesfalls zulässt, sich den Demütigungen, die sie erlebt, zu beugen. Selbst als ihre Versuche, sich ein wenig Heimat in der Fremde zu schaffen, durch schwere Schicksalsschläge scheitern, verliert sie ihr Ziel nicht aus den Augen – und vor allem verliert sie ihre Würde nicht.

Bild: Dumont Verlag

Lawrence Hill hat afroamerikanische Wurzeln und hat einige Zeit in Westafrika gearbeitet. „Ich habe einen Namen“ trägt im Original den Titel „The book of negroes“, ein Hinweis auf die Liste der Sklaven, die von Amerika aus in die ostkanadischen Kolonien gebracht wurden, um dort angeblich als freie Menschen zu leben.

Der Roman ist durchweg sehr gut recherchiert, historische Ereignisse nur geringfügig verändert, um den Plot lebendig zu halten. Hill schreibt bemerkenswert zurückhaltend, teilweise fast nüchtern, was den erschütternden Geschehnissen erst recht Wucht und Eindringlichkeit beschert. Dann wieder ist Hills Sprache poetisch, verdichtet und bietet in ihrer sprachlichen Schönheit eine irritierende Diskrepanz zu dem Erzählten.

Die dargestellte Erzählung umfasst ein ganzes Menschenleben und arbeitet immer wieder damit, Ereignisse „heran zu zoomen“, um auf der anderen Seite Jahre zu überspringen. Gelegentlich sind diese Sprünge etwas sehr abrupt und verwirren. Der Leser braucht wieder einige Seiten Lesezeit, um sich in der neuen Situation zurecht zu finden. Jedoch hat dieser Roman im Gesamten mich sehr in seinen Bann gezogen, erschüttert und bewegt. Wer sich anhand eines Einzelschicksals für die Geschichte der amerikanischen Sklaverei interessiert, findet hier einen auch sprachlich stark überzeugenden Roman, der nichts verschönt und es trotzdem versteht, den Leser auf Aminatas Lebensweg zu einem Begleiter werden zu lassen.

 

Lawrence Hill: Ich habe einen Namen

Dumont Verlag

ISBN 978-3-8321-6205-4

576 Seiten

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Über Andrea Daniel 61 Artikel
Bibliophil, kunstaffin und reisebegeistert bloggt Andrea über Bücher, Bücherreisen und anderes.