24. April 2024

J. D. Vance: Hillbilly – Elegie

„Die Geschichte meiner Familie und einer Gesellschaft in der Krise“

Der Untertitel ist gleichzeitig eine Inhaltsangabe! J. D. Vance beschreibt biografisch sein Aufwachsen in einer speziellen Familienkonstellation. Neben seiner sehr eigenen individuell – personalen Blickrichtung bietet J. D. Vance ein Vexierspiel der Perspektiven an. Findet sein Familienleben vor dem Hintergrund eines gesamtgesellschaftlichen Wandels in Amerika statt, oder ist die gesellschaftliche Entwicklung eine Begleitkakophonie zu seinem desaströsen Familienleben? Und auch später findet sein Familienleben in enger Verknüpfung an die speziellen Eigenarten der amerikanischen Kultur und der der Hillbillys statt.

J. D. Vance beschreibt seine kulturelle Heimat, die Appalachen als überaus prägend für die Menschen, die dort leben und diejenigen, die mit der Aussicht auf eine bessere Zukunft die Appalachen verlassen haben und sie in Zukunft noch verlassen werden. Vance bezeichnet die in den Appalachen lebenden Amerikaner als Mountain People, Hill People oder auch Hillbillys, die als Nachfahren von schottischen und irischen Einwanderer*innen eine eigene Identität entwickelt haben. Die Hillbillys entwickelten einen eigener Dialekt, eigene Musik, ein eigenes Selbstbewusstsein und leiden inzwischen permanent unter niedrige Einkommen, da in den Appalachen keine nennenswerten Arbeitsgelegenheiten angesiedelt sind.

Aufgrund der wirtschaftlichen Situation siedeln J. D.´s 1929 geborenen Großeltern nach Ohio um und begründen dort ihren eigenen Familienzweig, bleiben aber eng mit ihren Verwandten in Kentucky verbunden. In seiner Kindheit hat J. D. häufig Kontakt zu den Brüdern seiner Großmutter, die er zu Helden stilisiert. Der Kontakt zur Familie in den folgenden Generationen bleibt für J. D. lebensbegleitend und wichtig.

Neben der schwelenden Armut seiner elterlichen Generation leidet J. D. unter den unterschiedlichen Süchten, denen seine Mutter in den Jahren immer stärker unterliegen wird. Nicht hilfreich wirken die häufig wechselnden Lebenspartnerschaften, die J. D.´s Mutter eingeht: J. D. stellt sich kaum der Aufgabe, die Männer kennen zu lernen – ihn bewegt lediglich die Frage, wie lange diese Männer Teil seines Lebens bleiben.

Besonderere Ankerpunkte sind J. D.´s Großeltern und seine große Schwester, die ihm mehr Liebe, Erziehung und Fürsorge angedeihen lassen, als es seine Mutter schaffen kann. Die Großeltern haben das Glück, noch durch Rentenzahlungen versorgt zu sein, bevor die Industrie der ältesten und größten Industrieregion nach und nach stirbt und der sogenannte Manufacturing Belt zum Rust Belt (Rostgürtel) verkümmert.

J. D. wächst in einer Gegend auf, in der sich viele ausgewanderte Hillbillys niedergelassen haben. Damit waren sie zwar

„Kentucky entkommen, aber ihre Kinder mussten einsehen, dass der Highway 23 sie nicht zu einem erhofften Leben führte.“

Vance entwickelt Bilder, die den Leser Vergleiche mit seiner eigenen Lebenswirklichkeit schließen lassen. Einwanderer (Hillbillys), die ihre Hoffnungen, aber auch ihre Kultur mitbringen, die häufig überlebensfähiger ist als die Hoffnungen.

Den Ausstieg aus der Hillbilly-Mentalität schafft Vance nicht, aber er schafft die Assimilation an neue Menschen, die für ihn wichtig werden. Durch sie entwickelt er sich als Erwachsener und lernt sein Erleben, seine Familie und seine Wünsche für sein Leben zu einer Person zu integrieren.

Das Buch, dass ich fälschlicherweise als Roman zu mir genommen hatte, entpuppte sich als ein autobiografisches Sachbuch mit hochpersönlichen Anteilen. Vance beschreibt eine (Groß) – Familie, die ebenso in heftigen Widersprüchen des gesellschaftlichen Miteinanders verstrickt ist, wie die Bevölkerung um sie herum. Reizvoll ist unter vielem anderen, dass Vance nicht ausschließlich seine Erlebnisse und Emotionen zur Grundlage seines Erzählens macht. Viele Ableitungen begründet Vance mit Forschungsergebnissen sowie Recherche – Ergebnissen aus öffentlich zugänglichen Dokumenten und Quellen. Diese kennzeichnet Vance jeweils mit Fußnoten und führt sie in einer umfangreichen Quellenliste auf.

J. D. Vance macht an seinem eigenen Werdegang als armer Schüler in einer unterprivilegierten Umgebung zum Absolventen der mehr als renomierten Yale – Universität deutlich, wie widersprüchlich die gesellschaftliche Absicherung in Amerika funktioniert und dass gerade auf diesen Widersprüchlichkeiten die besonderen Hoffnungen des „american dream“ beruhen. Dabei übt er in der Beschreibung vieler alltäglicher Begebenheiten oder prägnanten Aussprüchen aus seiner Umgebung oft heftige Kritik an der Stellung der Frau in der Gesellschaft:

„Auf die Frauen wurde die ganze Zeit nur geschissen“ – Ausspruch von Mamaw (der Großmutter)

Vance reflektiert die Lehren seiner Großeltern und nimmt sie an. Die drastische Ausdrucksweise der (Groß-) Eltern ist einprägsam, deutlich und in ihrer Einfachheit gut nach zu vollziehen. Wenn sein Großvater sagt, dass nur „Verlierertypen denken, dass sich alles gegen sie verschworen hat“, schöpft Vance daraus den Durchsetzungs – Willen, „alles erreichen zu können, was er sich vorgenommen hat“.

Allerdings findet Vance auch heraus, dass er oft die Hilfe von Menschen benötigt und auf ihren guten Willen angewiesen ist. Das soziale Miteinander als ein Geben und Nehmen zu verstehen, ist ein besonderer Lernerfolg, der sehr deutlich als wichtig herausgestellt wird.

Das Leben in Amerika ist von vielen Widersprüchlichkeiten begleitet. So ist beispielsweise das Studium in Yale für sehr arme Menschen, so sie es denn durch die extremen Schwierigkeiten des amerikanischen Schulsystems geschafft haben, von Yale aufgenommen zu werden, eine der preiswerteren Möglichkeiten, den Abschluss und eine gute berufliche Chance zu erarbeiten.

Vance´s Geschichte verblüfft. Sein Werdegang könnte viele Menschen ermutigen ihren Weg zu gehen und den amerikanischen Traum zu leben. Vance macht aber sehr deutlich, dass Unterstützung und Hartnäckigkeit dazu gehören, Träume zu verwirklichen. Diese Unterstützung musste sich Vance mit Disziplin und Reflexion erarbeiten.

Die Hillbilly Elegie ist ein Buch, das amerikanische Kultur verständlich darstellt, Lust auf weiteres Nachlesen macht und in dem eine gute Geschichte erzählt wird.

J. D. Vance

Hillbilly – Elegie

Ullstein – Verlag

ISBN: 978 – 3 – 550 – 05008 – 4

 

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Über Klaus Daniel 183 Artikel
Aufgewachsen bin ich mit Karl May. Tom Sawyer war ein Held meiner Kindheit. In Onkel Toms Hütte wollte ich einmal leben. Mein Hund sollte Jerry heißen. Ohne zu Lesen geht es nicht. Dabei ist kein Genre ausgeschlossen. Ich liebe Geschichten mit Happy End.