„Wie herrlich, diese Strahlen! Sie scheint die Erde zum Himmel zu rufen!“
Als Alexander von Humboldt am Nachmittag des 06. Mai 1859 im Alter von 89 Jahren starb, sollen dies seine letzte Worte gewesen sein. Es war sonnig und das Licht zeichnete Muster auf die Wände seines Schlafzimmers. Noch im Sterben wendet Humboldt seine Aufmerksamkeit dem zu, womit er sich sein Leben lang beschäftigt hat: dem Kosmos und allem, was er davon erfahren und erforschen konnte. Zum Zeitpunkt seines Todes war er weltberühmt, seine Werke sind zahlreich und in vielen Übersetzungen erschienen und gekauft worden.
Humboldt hatte sich intensiv mit den Werken Immanuel Kants beschäftigt, er war eng und lebenslang mit Johann Wolfgang von Goethe befreundet – die beiden inspirierten sich gegenseitig -, er erlebte die bewegte europäische Geschichte der Französischen Revolution, der Kriegszüge Napoleons und des Wiener Kongresses, an dem sein Bruder Wilhelm von Humboldt für Preußen verhandelte. Wilhelm und Alexander führten eine Zeitlang einen Streit miteinander um die Frage des persönlichen Patriotismus, der für Alexander von Humboldt niemals ausschlaggebend war – ihn interessierte nicht das Nationale, er sah auf das Globale, auf weltweite Zusammenhänge. Obwohl er nach seiner Rückkehr von einer fünfjährigen Reise durch Süd-, Mittel- und Nordamerika mit einer dringend benötigten Pension vom preußischen König bedacht wurde, empfand er Berlin als provinziell und hielt sich lieber in Paris auf, wo er zahlreiche Anregungen durch Wissenschaftler unterschiedlichster Disziplinen erhielt. Humboldt war detailgetreu und äußerst genau in seinen wissenschaftlichen Untersuchungen und Messungen, sein Denken war aber immer holistisch, auf das Ganze bezogen. Er versuchte, Zusammenhänge zu erkennen und wissenschaftliche Disziplinen miteinander zu verknüpfen. Nicht nur das: Er war ein leidenschaftlicher Verfechter der Auffassung, dass sich die Welt nicht ausschließlich mit dem Verstand, sondern auch und durchaus nicht nachrangig durch die Sinne erschließen lässt. Sein nachhaltiger Ruhm und Bekanntheitsgrad fußen darauf, dass Humboldt mit seiner Sicht auf die Welt, den Menschen in der Natur und dem unentwegten Bemühen für eine menschliche Gesellschaft nicht nur Naturwissenschaftler ansprach, sondern auch Dichter, Künstler und Politiker. Und weiter: Durch seine klare verständliche Sprache wurden die Werke Humboldts nicht nur von Wissenschaftlern gelesen, sondern von Angehörigen sämtlicher Schichten vom Handwerker, Lehrer, Bauern und nicht zuletzt: von zahlreichen Frauen, die zu Humboldts Zeit noch wenig bis gar keinen Zugang zu Wissen hatten. In einer Zeit, in der sich die Wissenschaften immer mehr zersplitterten in immer kleinere und spezialisiertere Disziplinen, verknüpfte Alexander von Humboldt in seinen Theorien und Vorträgen alles miteinander, zeigte Zusammenhänge, die aus Sicht einer Einzeldisziplin nie aufgezeigt hätten werden können.
Humboldts Notizen für die Vorbereitung seiner Vorträge zeigen, wie sein Verstand arbeitete – wie er Querverbindungen von einer Idee zur nächsten entwickelte. Er begann durchaus konventionell mit einem Stück Papier, auf dem er seine Einfälle weitgehend in geraden Linien notierte. Doch dann kamen ihm neue Einfälle, die er auch auf das Papier quetschte – schräg an die Seite oder auf den Rand, wobei er die verschiedenen Punkte durch Schnörkel und Linien voneinander trennte. Je länger er über seine Ausführungen nachdachte, desto mehr Informationen fügte er hinzu.
Wenn die Seite voll war, bekritzelte er zahllose weitere Blätter mit seiner winzigen Handschrift und klebte sie dann aufeinander.
So war Humboldt der erste, der einen Zusammenhang herstellte zwischen der von den spanischen Eroberern eingeführten Monokultur und dem Absinken des Wasserspiegels des Valenciasees im heutigen Venezuela. Er erkannte, dass der See austrocknete, weil durch das Abholzen der für die Felder benötigten Flächen die Bodenerosion dermaßen zunahm, dass durch die Austrocknung der Böden auch dem See Wasser entzogen wurde. Humboldt als erster Ökologe? In seinen zahlreichen Beobachtungen und den daraus resultierenden Schlussfolgerungen kann man dies durchaus herauslesen. Humboldt erkannte, wie Menschen für kurzfristige Erträge die Natur dermaßen ausbeuteten, dass diese sich nicht mehr ausreichend erholen konnte – was langfristige Auswirkungen auf das Ökosystem hatte.
In „Alexander von Humboldt und die Erfindung der Natur“ richtet die in Indien geborene und in England lebende Journalistin Andrea Wulf den Fokus auf das Leben und Werk von Alexander von Humboldt sowie die Auswirkungen seines Werkes auf die Menschen seiner Zeit – und danach. Wulf beschreibt in chronologischer Abfolge die Forschung und Theorienentwicklung Humboldts und den Einfluss, den dieser damit ausübte. Ebenso wie Humboldt nicht nur Naturwissenschaftler war, wirkte sein Werk auch auf Dichter, Künstler und Politiker, auch lange über seinen Tod hinaus. Humboldt hatte Simon Bolivar kennen gelernt. Dieser entwickelte die Grundgedanken seiner Revolution auf Grundlage von Humboldts Begeisterung für Lateinamerika, seinem klaren Bild der Gleichheit aller Menschen und der deutlichen Botschaft, die schon in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts den Kolonialismus und die Sklaverei klar als inhumane Ausbeutung benannte. Henry David Thoreau hatte, während er in seiner Waldhütte lebte, mehrere Bücher von Alexander von Humboldt dabei und ließ sich von diesen anregen, die Natur um ihn herum genau zu beobachten und naturwissenschaftliche Erkenntnisse und Fantasie und Sinnlichkeit im Einklang zu bringen.
Ebenso führte Charles Darwin auf seiner Forschungsreise auf der „Beagle“ Humboldts Werke mit sich. Alexander von Humboldt hatte mit Johann Wolfgang von Goethe viele Diskussionen um sinnvolle Typisierungen und Eingruppierungen von ähnlichen und doch wieder differenzierten Eigenschaften bei Pflanzen und Tieren geführt. Eine sinnvolle Strukturierung dieser Eigenschaften ermöglichte es, dass erste Fragen zu einer gemeinsamen Herkunft von Rassen und Arten gestellt wurden – und bildeten so eine wichtige Grundlage zur Entwicklung der Evolutionstheorie.
Ob Goerge Perkins Marsh, der die holistische naturwissenschaftliche Sichtweise Humboldts weiterführte, ob Muir, der sich massiv für die ersten Naturschutzparks in Amerika einsetzte oder Ernst Haeckel, der die Lehren Darwins fortführte und verfeinerte – zahlreiche Menschen ließen sich von Humboldts Leben und Werk beeinflussen. Andrea Wulf stellt in ihrem Buch einige von ihnen vor. Sie zeigt detailliert und zugleich auf den Punkt gebracht auf, wie diese sich von Humboldt beeindrucken ließen, wie sein Denken Nachfolger fand und großen Einfluss nahm. Wulfs Buch, das von Hainer Kober hervorragend übersetzt wurde, liest sich flüssig. Wulf findet ein gutes Gleichgewicht zwischen vertiefter Darstellung von Details und deren Einfluss auf das Ganze – ganz im Sinne Alexander von Humboldts. Sehr gerne habe ich dieses lebendige und beeindruckende Buch gelesen, das gerade heute in den Zeiten von Globalisierung und menschengemachtem Klimawandel brandaktuelle Bezüge hat und die Wichtigkeit unterstreicht, interdisziplinär und international zusammenzuarbeiten.
Sehr zurecht hat Andrea Wulf für dieses Buch vor wenigen Tagen den Bayrischen Buchpreis in der Kategorie „Sachbuch“ erhalten.
Dieses Buch ist Teil des Humboldt-Leseprojektes.
Andrea Wulf: Alexander von Humboldt und die Erfindung der Natur
C. Bertelsmann Verlag
ISBN: 978-3-570-10206-0
556 Seiten
Hallo Andrea,
habe jetzt erst von Deinem Humboldt-Projekt gelesen. Deine Rezension ist super, dieser Roman steht seit der Letzten „Druckfrisch“ Sendung auf meinem Wunschzettel, Du hast mich nun restlos überzeugt, das Buch zu kaufen!
Vielen Dank! Liebe Grüsse. Olaf
Hallo Olaf,
das freut mich sehr!
Ich habe das Buch mit großer Begeisterung gelesen, denn der flüssige Schreibstil macht es zu allem anderen als einem drögen Sachbuch. Und da sich die Autorin an der Biographie Humboldts entlang hangelt, lernt man „ganz nebenbei“ auch viel über Humboldts Leben, seine Zeit, aber eben auch sein Auftreten (er war eben auch ein nicht ganz uneitler Mann ;-)).
Ich wünsche Dir viel Freude beim Lesen – und vielleicht magst Du mal von Deinen Eindrücken berichten?
Liebe Grüße
Andrea