Der Mensch erscheint nicht als gebietender Herr, der willkürlich über die Erdoberfläche verfügt, sondern als reisender Gast.
Vor Jahren, Spieleabend mit Freunden, wir sitzen um eins dieser Würfelspiele, bei denen man „nicht alltägliche Fragen“ beantworten muss. Ich bin dran, mir wird folgende Frage gestellt: „Wenn Geld keine Rolle spiele und du und alle deine Freunde, Familie und andere wichtige Menschen einander augenblicklich vergessen würdet – würdest du dann in ein Raumschiff steigen, um jahrelang das Weltall zu erforschen?“ Keine Überlegung, ich antwortete augenblicklich mit einem „Ja!“. Mit Ausrufezeichen. Forschen und entdecken, Neues sehen, das ist eine Seite in mir, die mich lebendig macht und ein großer Antrieb ist (deswegen lese ich auch gern und viel – geistiges Reisen eben). Und dann stoße ich zufällig auf ein Buch über einen der größten Forscher und Entdecker der Welt.
Alexander von Humboldt ist als jüngster Sohn des Offiziers Alexander Georg von Humboldt und Marie Elisabeth von Humboldt, geborene Colomb, aus einer französisch-hugenottischen Familie stammend, in wohlhabende Verhältnisse hineingeboren und kann lange Zeit auf sein Erbe zugreifen (erst Jahrzehnte später wird er mit der Veröffentlichung seines wissenschaftlichen Werks, das er selbst herausbringt, alles Vermögen aufgebraucht haben). Seine Kindheit ist geprägt von preußischen Erziehungs- und Bildungsvorstellungen, unter denen er massiv leidet. Alexanders Flucht führt ihn zu der Lektüre von aufklärerisch geprägten Büchern, er liest Thomas Morus, Rousseau, Moses Mendelssohn und Goethe, mit dem ihn später eine lebenslange Freundschaft verbinden wird. Als Sechzehnjähriger nimmt er an dem Salon Henriette Herz´s teil, den „Dienstagsgesellschaften“, und erlebt dies als Ausbruch aus der geistigen Enge seines Elternhaus. Er, der sich selbst als „gemisshandeltes Kind“ bezeichnet, beginnt zu träumen, entwickelt Fernweh und den Drang, die Welt kennen zu lernen. Es wird noch Jahre dauern, bis er diese Sehnsucht verwirklichen kann. Zunächst studiert er Bergbau an der berühmten Bergakademie Freiberg, eignet sich grundlegende Kenntnisse in Geologie und Mineralogie an und arbeitet schon während des Studiums in der Grube. Später wird er fest angestellt. Er könnte hier Karriere machen, seine Schriften und Studien sind hochgeschätzt. Neben geologischen Studien arbeitet er auch an konkreten technischen Lösungen zur Verbesserung der Arbeits- und Sicherheitsbedingungen der Bergleute und gründet eine Schule, um jungen Bergleuten Zugang zu Bildung zu ermöglichen. Er unternimmt kleinere Reisen, beschäftigt sich mit Botanik, Physik und Biologie – doch der Traum davon, die Welt zu bereisen, erlischt nie, im Gegenteil, er verstärkt sich in der Diskussion mit Freunden über das gute Leben in einer Idee, „abseits der Zivilisation zu leben und zu arbeiten“. Mit dem Tod der Mutter fällt ihm ein Vermögen in den Schoss, Humboldt denkt jetzt konkret über eine Reise „nach Westindien“ nach. Doch in Europa herrscht Krieg, Napoleon zieht mit seinen Truppen durch die Länder, Humboldt hängt fest. Er lebt in Paris, die Stadt, in der er sich am wohlsten fühlt. Hier lernt er zufällig den Botaniker Aime Bonpland kennen. Die beiden freunden sich an, auch Bonpland ist getrieben von dem Wunsch, ferne Länder zu erforschen. Auf der Suche nach der Möglichkeit, die ersehnte Reise zu konkretisieren, landen die beiden eher zufällig, bedingt durch die Kriegswirren in Europa mit immer neuen Fronten, in Madrid. Und hier bringen ihnen glückliche Zufälle und das Kennenlernen der richtigen Bekannten die Gelegenheit, mit dem spanischen König zu sprechen, der ihnen Pässe und Schutzbriefe gibt. Hier treffen sie auch auf eine Fregatte mit dem Ziel Havanna. Sie schiffen ein. Im Juni 1799 starten die beiden Freunde zu einer fünfjährigen Reise, die Humboldt weltberühmt machen wird.
Werner Biermann ist Journalist, Autor und Filmemacher. Über Jahre hat er sich mit Alexander von Humboldts Leben und Werk beschäftigt. Er reist auf seinen Spuren durch Süd-, Mittel- und Nordamerika. In „Der Traum meines ganzen Lebens – Humboldts amerikanische Reise“ stellt er biografisch die Expedition vor und lässt dabei seine eigenen Reiseerfahrungen hineinspielen. Er beschreibt die einzelnen Stationen Humboldts und Bonplands, ihre Entdeckungen und Forschungen.
Erstmalig ist eine Reise auf den amerikanischen Kontinent ausschließlich der Forschung gewidmet. Und so treten die beiden Freunde auch in den Ländern, die sie bereisen, auf: mit Respekt und großem Interesse an den Menschen, egal, welcher Herkunft und mit welcher gesellschaftlichen Stellung. Humboldt ist dabei nicht allein an geologischen oder botanischen Erkenntnissen interessiert, er ist Ethnologe, Naturwissenschaftler, Astronom, Philosoph und Humanist. Ihm begegnen in allen Ländern die Auswirkungen der Conquista, er prangert den unmenschlichen Umgang der Eroberer, aber auch der Missionare mit den Indios an. Leidenschaftlich spricht er gegen die Sklaverei. Humboldt hat viel Geld in die Ausstattung der Expedition gesteckt, er nimmt unzählige Messungen vor, beobachtet, zeichnet, entwickelt neue Theorien. Humboldt geht es weniger um das einzelne Detail, er lenkt seinen Blick auf das Ganze, auf die großen Zusammenhänge. Viele seiner Theorien werden später widerlegt werden; die holistische Herangehensweise, die Humboldts Haltung prägt, wird jedoch gerade in der jüngeren Vergangenheit wiederentdeckt und geschätzt.
Humboldt muss sich auch mit sich selbst, seinen Grenzen auseinander setzen:
Auch die dortigen Einwohner sind gerade beim Abendessen; sie verzehren vachacos, große geräucherte Ameisen, deren Hinterteil sehr fetthaltig ist. Die Ameisen werden in Säcken über einem Feuer geröstet. Der Manioc, sagen die Leute, gedeihe diesmal schlecht, dafür sei es aber „ein gutes Ameisenjahr“. Pater Zea vermengt seine Ameisen und lädt sie ein, zu kosten, doch ein Überrest europäischer Vorurteile, schreibt Alexander selbstironisch, hinderte uns daran, den allgemeinen Elogen beizupflichten.
Auch dass seine Forschungen ebenfalls Einfluss auf seine Umwelt und deren Bewohner nimmt, müssen Humboldt und Bonpland erkennen: Als sie eine Nekropole untersuchen und Knochen sortieren, um sie nach Europa für weitere Forschungen zu schicken, erfahren sie den Unwillen der Bevölkerung, die dies als Schändung erlebt:
Trotzdem beenden die Europäer ihren Frevel noch lange nicht. Nur im Tagebuch überlegt Alexander abends für sich selbst: „Armes Volk, selbst in den Gräbern stört man deine Ruhe.“
Die beiden Freunde planen keine Reiseroute, sie ergreifen die Gelegenheiten, die sich ihnen bieten, beim Schopf und forschen dort, wo es sie hintreibt. Ihre Haltung und ihr Respekt vor den Menschen öffnet ihnen Türen, überall werden sie freundlich empfangen, erfahren Hilfsbereitschaft und Unterstützung. Auf dem gesamten amerikanischen Kontinent hat der Name Humboldt bis heute eine positive Konnotation, viele Straßen, Plätze, aber auch naturwissenschaftliche Phänomene werden nach Humboldt benannt.
Im Sommer 1804 kehren Humboldt und Bonpland nach Paris zurück. Humboldt ist noch Jahre damit beschäftigt, die gesammelten Daten auszuwerten und zu verschriftlichen. Es wird sein Lebenswerk sein. Amerika wird er nie wieder betreten.
Biermann ist mit seiner Reportage eine hervorragende Gesamtdarstellung der Amerikareise von Alexander von Humboldt gelungen. Obwohl Biermann selbst den Stationen Humboldts nachgereist ist, bringt er seine Erfahrungen nur zurückhaltend und dezent ein, sodass das Buch eindeutig seinem Protagonisten gewidmet ist. Biermann zitiert zahlreiche Quellen- und Originaltexte, diese sind in den Fließtext eingeflochten und lediglich durch einen Kursivdruck kenntlich gemacht, was den Lesefluss deutlich vereinfacht. Im Anhang werden die Quellen sowie weiterführende Literatur vorgestellt. Biermann schreibt konkret und veranschaulichend. Trotz einer weitgehend sachlichen Darstellung der Expedition gelingt es ihm, den Menschen Alexander von Humboldt zu vermitteln. Unter der großen Aura des berühmten Forschers zeichnet Biermann auch die Ambivalenzen und inneren Konflikte Humboldts, eingebunden in einer sich rasant verändernden Welt in einer spannungsgeladenen Zeit. Das Buch ist eine gut lesbare Reportage über eine außergewöhnliche Forschungsreise.
Die „Entdeckerin in mir“ ist wieder angefüttert worden, nicht zuletzt, da mir einige der Stationen Humboldts durch eigene Reisen vertraut sind. Weitere Reisen sind also in Planung.
Werner Biermann: Der Traum meines ganzen Lebens – Humboldts amerikanische Reise
Rowohlt Berlin
363 Seiten
ISBN 3871346012
Dieses Buch ist Teil des Humboldt-Lese-Projekts, Info´s hier.