Auch wer kein oder nur wenig Interesse für Kunst hat, kennt den Namen Picasso. Dieser Maler, der die Kunst des vergangenen Jahrhunderts wie kaum ein anderer geprägt hat, hat einen hohen Bekanntheitsgrad – verdientermaßen. Unerschöpflich produktiv, hochgradig kreativ in unterschiedlichen Schaffensphasen, ist die Beschäftigung mit seinem Werk faszinierend. Es dürfte auch bekannt sein, dass Picasso viele Verehrerinnen hatte, viele Frauen, die im Laufe seines Lebens sein Bett und sein Leben teilten. Manchmal auch parallel zueinander. Einige davon wurden selber bekannt – durch ihr eigenes Werk oder in den Bildern Picassos, in denen er seine Musen festhielt und ihnen seinen Stempel aufdrückte.
Einer davon, die acht Jahre Picassos Geliebte war, verleiht die kroatische Schriftstellerin Slavenka Drakulic eine Stimme: Dora Maar, eigentlich Henriette Theodora Markovitch, die wie die Autorin kroatische Wurzeln hat – ihr Vater war aus Zagreb nach Frankreich gegangen, wo er Dora Maars Mutter kennen lernte. In dem Nachlass von Dora Maar fand sich 1997 ein schwarzes Notizbuch mit Aufzeichnungen, in denen Dora in den 1950er Jahren auf ihre Beziehung mit Pablo Picasso zurückblickt. Möglicherweise plante sie anhand dieser Aufzeichnungen eine Biografie. Slavenka Drakulic verwendet diese Aufzeichnungen als Grundlage ihres Romans.
Roman? Ich bin mir nicht sicher. Ja, „Dora und der Minotaurus“ hat einen roten Faden anhand der Chronologie der Geschehnisse. Dennoch hat dieses Buch keinen Plot, sondern besteht größtenteils aus einer Rückschau und Reflexion Dora Maars über das, was geschehen ist. Und genau dies erzeugt eine spannungsreiche, dichte Atmosphäre, in die der Leser tief eintaucht und nicht nur Einblicke in den Menschen Dora Maar erhält, sondern auch Picasso kennen lernt.
Picasso, der Minotaurus. Dora beschreibt eine Szene, in der Picasso ihr eine Zeichnung schenkt, das sie beide zeigt. Picasso hat sich selbst als Minotaurus dargestellt, also als ein Mischwesen aus der griechischen Mythologie, ein Mensch mit dem Kopf eines Stieres. In der Mythologie wird Minos´Frau Pasiphae von einem Stier begattet und gebiert den menschenfressenden Minotaurus. Auch Picassos Zeichnung zeigt einen sexuellen Akt, in der der Minotaurus als mächtiges, beherrschendes Wesen sich der Frau zuwendet, die ohnmächtig und verletzbar vor ihm liegt, sich mehr unterwirft als sich hingibt. Von Picassos Frauen wird gesagt, dass sie sich für Picasso aufgeben, sich ganz ihm und seinen Bedürfnissen hingeben mussten. So auch Dora Maar. Diese hatte sich bereits einen Namen gemacht als Fotografin, sie war in engem Kontakt mit einigen surrealistischen Künstlern, mit denen sie zusammen arbeitete. Man Ray hatte die geheimnisvolle schöne Dora fotografiert. Als Picasso diese Fotografie sah, verliebte er sich in Dora – sie sollte später sagen, dass er immer nur das Bild gesehen hat, nie sie selbst. Während Picasso 1936, als sich die beiden kennen lernen, beeindruckt zeigt von dem Selbstbewusstsein und Mut der jungen Frau, gibt sie im Laufe der knapp achtjährigen Beziehung mit ihm ihre Tätigkeit als Fotografin auf, muss später sogar einige Zeichnungen, die Picasso ihr geschenkt hat, verkaufen, um sich finanziell über Wasser zu halten. 1937 dokumentiert Dora Maar den Schaffensprozess von Picasso´s berühmten Bild „Guernica“ – danach verstaubt ihre Kamera. Und auch ihre Persönlichkeit gibt die junge Frau auf, alles Denken und Planen richtet sich an den Geliebten aus. Dem ist dies erkennbar egal, er ruft Dora zu sich, wenn er sie benötigt, als Muse, als Sexpartnerin, als Gesellschafterin. Marie Therese Walter, Mutter von Picassos ältester Tochter Maya, kommt immer wieder zu Besuch, buhlt um Picasso, der nie Stellung bezieht, welche Frau denn nun die ist, die ihm am wichtigsten ist. Selbst einer Handgreiflichkeit zwischen beiden Frauen sieht er lediglich amüsiert zu. Als er 1943 Francoise Gilot kennen lernt, findet die Beziehung zu Dora ein Ende.
Und Dora ist innerlich zerstört. Sie leidet zunehmend an Depressionen, wird letztlich in einer Psychiatrie aufgenommen, wo sie Elektroschocks erhält. Picasso vermittelt noch den Kontakt zu dem Psychoanalytiker Jaques Lacan, der Doras Therapie übernimmt. In den darauf folgenden Jahren, bis zu seinem Tod, haben Dora und Picasso immer wieder Kontakt, immer noch kann sie sich seiner Faszination nicht entziehen, so sehr die alten Wunden wieder aufgerissen werden.
Dieses Buch ist keinesfalls eine Abrechnung mit dem Egozentriker Pablo Picasso. Dora Maar weiß, dass sie mitgespielt hat, dass sie sich hat verführen lassen, die Rolle einzunehmen, die der charismatische Maler ihr aufdrängt. Wie auf der Zeichnung, die dieser ihr geschenkt hat, gibt sie sich hin, während er zwar machtvoll von ihr Besitz ergreift, aber selbst unnahbar bleibt:
Wenn wir badeten und uns liebten, wenn wir aßen und schliefen, am Meer spazieren gingen oder uns unterhielten, war ich Dora, aber er war nicht Pablo, sondern Picasso. Darin lag der wesentliche Unterschied zwischen uns, der mein Leben veränderte.
Dora realisiert schon längst, was mit ihr passiert, spürt die Abhängigkeit, in die sie sich zunehmend begibt, und dass sie sich selbst aufgibt, ihre eigene Schaffenskraft opfert. Es ist keinesfalls nur auf Picassos Insistieren zurück zu führen, und sie sieht Picasso nicht nur als egozentrisches Monster:
Es ist leicht, Picasso als einen besessenen Egozentriker zu bezeichnen. Aber dieser Mensch hat einen Dämon in sich, der ihm keine Ruhe lässt und ihn daran hindert, anderen etwas von seiner Zeit oder seinen Gefühlen zu schenken […] Er schuf unaufhörlich. […] Schaffen war für ihn die einzige Art zu existieren.
[…]
So sehr ich ihn liebe, so sehr verachte ich ihn auch. Als Mann ist er elend, unmoralisch, geizig, böse. Als Künstler ein Genie, das ich bewundere. Dank seiner Kunst ist Picasso keine Person wie jede andere. Er ist mehr als das. Das Wesen von Picasso ist die Kunst. Und das Wesen der Kunst ist der Geist.
Dora Maar beschreibt sich selbst als „zerbrechliche Identität“, hatte schon als Kind den Eindruck, dass man in sie hineinschauen könne wie durch ein Fenster. Ihre Identität wirkt fragmentarisch aus unzusammenhängenden Rollen und Selbstverständnissen zusammengesetzt.
Pablo Picasso ist der wohl berühmteste Vertreter des Kubismus, einer Kunstrichtung, bei der unterschiedliche Blickwinkel eines Motives auf die Zweidimensionalität der Leinwand aufgebracht werden. Auch von Dora Maar hat Picasso mehrere kubistische Bilder angefertigt (s.o. das Beitragsbild). In „Dora und der Minotaurus“ setzt Slavenka Drakulic mehrere Blickwinkel auf die Personen Picasso und Dora Maar zu einem faszinierenden, aber durchaus auch verstörenden Bild zusammen, zeigt deren Facetten auf, die aufeinander reagierten und sich ineinander spiegelten. In einer ruhigen, dichten Sprache gelingt es diesem Buch, den Leser in die Gefühlswelt Dora Maars zu ziehen, subjektiv zu werden. Gleichzeitig bleibt der Leser Betrachter und Außenstehender. Und genau dies irritiert, denn mit ständigem Kopfschütteln wird der Leser Zeuge, wie eine aussichtsreiche, intelligente Frau sich zunehmend reduzieren lässt auf die Rolle der Geliebten und Muse Picassos. Was, wenn es lediglich von Anfang und Ende aus betrachtet wird, völlig unverständlich erscheint, wird während des Lesens fassbar und man blickt in einen Abgrund, der weniger weit weg erscheint als zunächst angenommen. Genau das beunruhigt und fasziniert zugleich. Ich habe während des Lesens immer wieder Pausen machen müssen, so dicht war das Erzählte, so schwer war die Kost, so häufig das Unbehagen. Und genau darin liegt der Wert dieses Buches.
Eine weitere Besprechung dieses Buches findet sich auf Rosa´s Blog „A Million pages“ hier.
Slavenka Drakulic: Dora und der Minotaurus
Aufbau Verlag 2016
236 Seiten
ISBN 978 – 3- 351 – 03643 – 0