3. Oktober 2024

Dorothee Nolte: Wilhelm von Humboldt – Ein Lebensbild in Anekdoten

Wilhelm von Humboldts Statue vor der Humboldt-Universität Berlin

Überlassen wir Wilhelm von Humboldt am besten selbst das […] Wort. Er hat eine „Idee der Menschheit“ formuliert, an die zu erinnern sich lohnt. Sie liege in dem „Bestreben, die Grenzen, welche Vorurteile und einseitige Ansichten aller Art feindselig zwischen die Menschen gestellt, aufzuheben; und die gesamte Menschheit ohne Rücksicht auf Religion, Nation und Farbe als einen großen, nahe verbrüderten Stamm, als ein zur Erreichung eines Zweckes, der freien Entwicklung innerer Kraft, bestehendes Ganzes zu behandeln“. Die Überwindung von Vorurteilen und Feindseligkeiten, die „freie Entfaltung innerer Kraft“, und zwar für alle: Diese Sehnsucht verbindet den steinernen Mann auf dem Podest mit uns, die wir quicklebendig unten an ihm vorbeigehen.

In diesem Zitat aus dem neuesten Buch der Journalistin und Schriftstellerin Dorothee Nolte liegen bereits die wichtigsten Themen, die das Leben Wilhelm von Humboldts (1767 – 1835) bewegten. Der ältere Bruder des brillanten, weltgewandten Alexander von Humboldt – nach ihnen beiden ist die Humboldt-Universität Berlin benannt – hat selbige gegründet. Auch wenn er sich gegen diesen Auftrag gesträubt hat. Zeit seines Lebens war Wilhelm von Humboldt eher ein Privatier, der sich in Angestelltenverhältnissen eingeengt fühlte, dennoch Großes leistete, und den die Fragen der Bildung und Charakterbildung, der Nation und der Funktion des Staates, der Toleranz und der Freiheit begleiteten. Er selbst sah diesen Prozess nie als abgeschlossen an, er rief dazu auf, sich mit sich selbst, den eigenen Vorurteilen und charakterlichen Untiefen genauso auseinanderzusetzen wie mit dem Einwirken auf die äußeren Verhältnisse, nicht zuletzt der Politik. In seinen sprachwissenschaftlichen Werken zeigt er eindrucksvoll auf, wie Sprache das Denken des Menschen formt, wie sie als Kommunikationsmittel Menschen miteinander verbindet und in Schaffungsprozessen die Kreativität befeuert und anregt.

Die hehren Ansprüche, die Humboldt formuliert, lassen ihn selbst oft scheitern, treiben ihn jedoch genauso oft an. Und so zeigt der Blick auf diesen äußerlich unscheinbaren Mann ein schillerndes, vielschichtiges Bild. Privates und Berufliches lassen sich hierbei nicht trennen, Humboldt genoss den Rückzug in das Privatleben, als er sich dies, bedingt durch sein Erbe, leisten konnte. Er legte dabei jedoch nicht die Hände in den Schoß, sondern arbeitete hart, schrieb sprachwissenschaftliche Abhandlungen, reiste, reflektierte das Zusammenleben zwischen Mann und Frau und in der Familie, suchte geistigen Austausch und Anregung in seinen Freundschaften mit Goethe und Schiller und anderen Schriftstellern, Philosophen und Denkern seiner Zeit. Dennoch folgte er den an ihn ergehenden Aufträgen und war pflichtbewusster Diplomat, Staatsdiener und Bildungsreformer. Auf diesen Zweiklang aus innerem Rückzug und aktiver Gestaltung der Umwelt beruhen seine Prinzipien: Als er mitten in die Wirrnisse der Französischen Revolution reist, stellt er sich sehr bewusst den Eindrücken, die die Folgen der politischen Ereignisse für die Menschen ihm vor Augen führen. Er sieht das Elend, vergleicht es mit seiner eigenen, privilegierten Position und formuliert aus dem Missverhältnis zwischen Arm und Reich den Auftrag für den Staat, die Grundbedürfnisse seiner Bürger sicherzustellen – wenn man so will, ein Aufruf zu einem Wohlfahrtsstaat. Erst die Freiheit von dem Zwang der Existenzsicherung ermögliche es dem Einzelnen, sich und seine Persönlichkeit zu bilden und wiederum zum Wohle aller einzusetzen. Nicht mehr und nicht weniger: Außer zur Sicherung menschenwürdiger Verhältnisse habe der Staat nicht in das Leben seiner Bürger einzugreifen.

Und diese Haltung spiegelt sich auch in der Arbeit als Bildungsreformer, einem Auftrag, den Humboldt nur widerwillig annimmt. Nichtsdestotrotz gestaltet er nach der Niederlage Preußens ein Bildungssystem, das bis heute wirkt. Humboldt formuliert den Anspruch, dass das Bildungssystem dem Einzelnen eine individuelle Entfaltung ermögliche, dass in einer gleichberechtigten Gemeinschaft von Lehrenden und Lehrenden die auch kontroverse Diskussion gefördert wird und somit zu Toleranz und Brüderlichkeit aller Menschen beitrage.

Ja, richtig: die Brüderlichkeit. Denn obwohl Wilhelm von Humboldt eine Ehe führt, die von Gleichberechtigung, Respekt und Achtung voreinander geprägt ist, beziehen sich seine Ideen von der Menschheit rein auf Männer. Er beschäftigt sich viel mit dem unterschiedlichen Wesen von Mann und Frau, sieht darin sich verbindende Elemente von Unterschiedlichem. Seiner Frau gesteht er Affären und Nebenbeziehungen zu, er selbst besucht während der Zeiten des Getrenntseins häufig das Bordell. Die Ehe zwischen ihm und Caroline von Dacheröden gründet auf Liebe und Respekt. Ihr früher Tod ist ein schwerer Schlag für Humboldt. Sechs Jahre später stirbt er im Alter von 68 Jahren.

 

Bild: Eulenspiegel Verlag

Das Leben dieses faszinierenden und facettenreichen Manns ist Inhalt von Dorothee Noltes Büchlein „Wilhelm von Humboldt – Ein Lebensbild in Anekdoten“. Anhand von Zitaten aus seinen zahlreichen Briefen, Werken oder aus Vermerken aus den Werken von Humboldts Lehrern, Reisekameraden, Freunden sowie Diskussionspartnern legt sie eine Biografie vor, die die Vielschichtigkeit Humboldts aufzeigt und untermalt. Das Buch ist flüssig zu lesen, es kommt nie Langeweile auf. Nolte schreibt unterhaltsam und sie weiß, wovon sie schreibt. Trotz der Kürze gelingt es ihr, die wichtigsten Aspekte von Humboldts Biografie darzustellen.

Wegen der Kürze ist dies jedoch oberflächlich, auf den 128 Seiten des Büchleins können die wesentlichen Themen nur angerissen werden. Sehr schade, denn diese sind durchaus nicht nur interessant, sondern auch wohl aktueller denn je, sodass es dem Buch sicher nicht geschadet hätte, sich differenzierter mit Humboldts Ideen auseinander zu setzen und dies dem Leser vorzustellen.

„Anekdoten“, titelgebend für dieses Buch, wird im Duden folgendermaßen definiert:

kurze, meist witzige Geschichte, die eine Persönlichkeit, eine soziale Schicht, eine Epoche u. Ä. treffend charakterisiert

(Quelle: hier, Stand 06.08.2017)

Ja, gelegentlich schmunzelt man bei der Lektüre, Wilhelm von Humboldt war nicht ohne Humor. Letztlich dienen die hier eingebrachten Zitate jedoch in erster Linie der Untermauerung der dargestellten Inhalte, ähnlich einer wissenschaftlichen Arbeit, bringen jedoch keinen eigenen Mehrwert ein.

Dorothee Noltes Buch ist ein angenehmer Einstieg, um einen Überblick über das Leben und Denken Wilhelm von Humboldts zu erhalten. Mehr jedoch nicht. Letztlich bleibt es der Kürze geschuldet, dass es im Gesamten recht oberflächlich wirkt. Ich hatte aufgrund des Buchtitels gehofft, ein wenig mehr einen Einblick in den Menschen Wilhelm von Humboldt zu erhalten, indem er durch entsprechende Anekdoten skizziert wird. Diese Hoffnung wurde enttäuscht. Dennoch: als Einstiegslektüre für die Beschäftigung mit Wilhelm von Humboldt ist dieses Büchlein auf jeden Fall geeignet.

 

Dorothee Nolte: Wilhelm von Humboldt – ein Lebensbild in Anekdoten

Eulenspiegel Verlag

128 Seiten

ISBN 978-3-359-01733-2 (Print)

ISBN 978-3-359-50068-1 (ebook)

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Über Andrea Daniel 61 Artikel
Bibliophil, kunstaffin und reisebegeistert bloggt Andrea über Bücher, Bücherreisen und anderes.