Vor einigen Tagen ging ein Beitrag durch die Reihen der Buchblogger, dessen Inhalt immer mal wieder in unterschiedlicher Form diskutiert wird: Saskia Weyel schreibt in ihrem Blog whoistkafka ein Plädoyer für Toleranz gegenüber den unterschiedlichen Lesevorlieben, egal ob Trivial- oder Hochliteratur. Nun kann man sich dem inhaltlich nur anschließen. Ich kenne auch Zeiten beruflicher und persönlicher Krisen, in denen mir das Lesen von sogenannter Hochliteratur gar nicht möglich war und nur „leichte Kost“ mich überhaupt bei der Lese-Stange hielt. Und wer möchte nicht, dass sein Büchergeschmack geteilt oder zumindest akzeptiert wird? Der reichhaltige Büchermarkt gibt schließlich genug her und bedient so gut wie jede Vorliebe. Und Toleranz sollte eigentlich als selbstverständliches Instrument einer pluralistischen Lese-Gesellschaft anerkannt sein.
Ich bin nach dem Lesen dieses Blogbeitrags nachdenklich geworden. Was reizt eigentlich dazu, dass noch einmal in einem ausführlichen Blogbeitrag (scheinbare?) Selbstverständlichkeiten eingefordert werden? Ist es die Erfahrung von Intoleranz, einer Intoleranz, die die eigene (möglichst durchdachte und begründete) Meinung als Maß aller Dinge sieht und Abweichungen abwertet? Ist es die fehlende Begründung einer abweichenden Sichtweise? Wie gehen wir Leser selbst damit um, dass unser Lesegeschmack nicht von allen geteilt wird, wir uns (begründete?) Kritik gefallen lassen müssen?
In den letzten Wochen ist viel von Filterblasen die Rede, und so hoch möchte ich gar nicht greifen. Aber wenn wir in Form von Blogbeiträgen und in sozialen Netzwerken mit unseren Meinungen, und damit auch mit unseren Meinungen zu Büchern, an die Öffentlichkeit begeben, ist es ein verständlicher Wunsch, dass wir damit Anerkennung erreichen wollen und uns freuen, auf Gleichgesinnte zu treffen, die unsere Meinung teilen. Das ist menschlich, über ein solches Gefühl der Zugehörigkeit entsteht Identität, Zugehörigkeit und positive Rückmeldung. Die andere Seite ist aber auch die, dass wir mit unseren Meinungen ebenfalls nur einen Standpunkt und keine Allgemeingültigkeit vertreten und somit immer wieder auf Menschen treffen, die anders denken, einen anderen Standpunkt haben. Nicht nur wir werden von anderen abgegrenzt, auch wir selbst tun es. Absolute Normalität, solche Erfahrungen machen wir nicht nur beim Lesen und darüber reden.
Wenn also whoiskafka zu Recht zu Toleranz gegenüber unterschiedlichen Lesegeschmäckern auffordert, kann ich nur klare Zustimmung äußern.
Ja.
Ja, aber…
Ja, und…
Es klingt eben dieser zweite Teil auch mit an: Nicht nur: Was wünsche ich mir von Andersdenkenden in Bezug auf mich? Sondern auch: Wie gehe ich meinerseits mit Andersdenkenden um? Und damit meine ich nicht die geforderte Toleranz, die, wenn ich sie selbst einfordere, selbstverständlich auch von mir erbracht werden muss. Ich meine die Frage nach dem vielleicht auch mal bewusst aktiven Umgang mit dem Anderen.
Fast zeitgleich brachte Sophie Weigand auf ihrem Blog Literaturen einen sehr lesenswerten Beitrag mit dem Titel „Die Angst vor dem Abgrund“ . Sie beschreibt darin sehr anschaulich die Angst davor, sich mit dem auseinander zu setzen, was Angst macht, wovon man Sorge hat, in einen seelischen Abgrund gerissen zu werden, und ermutigt dazu, sich dem auszusetzen und gerade Literatur zu nutzen, um den Abgründen, denen wohl jeder von uns im Laufe seines Lebens begegnet, entgegen zu treten und sich damit auseinander zu setzen.
Ich finde diesen Ansatz sehr klug. Den Mut zu haben, dem, was Angst macht, zu begegnen, macht stark und erweitert den Horizont. Und um zu Saskias Plädoyer für Toleranz der unterschiedlichen Lesevorlieben zurück zu kommen: Das Eine ist gar nicht so weit weg vom Anderen. Die Angst vor dem Abgrund, vor dem, was uns im Leben an schlimmen Erfahrungen begegnen kann oder wird, hat durchaus Ähnlichkeit mit der Angst vor dem Anderen, dem, was wenig einzuschätzen ist, was ich nicht kenne. Kann dies daher nicht auch ein Ansatz sein, um auch dem Anderen, der anderen Meinung zu begegnen? Wenn ich vorhin den Begriff der Filterblase eingebracht habe, will ich diesen Begriff nicht überreizen, aber doch mal verwenden, um auf die Gefahr hinzuweisen, dass wir uns mit unserer Vorliebe, uns mit ähnlich denkenden und fühlenden Menschen, real und in den sozialen Netzwerken, zu umgeben, auch ein wenig abschotten nicht nur gegenüber dem Angstmachenden, sondern auch das ein oder andere Mal gegenüber dem Anderen, der anderen Meinung, der anderen Sichtweise, der anderen Bewertung. Hirnphysiologen haben in mehreren Studien gezeigt, dass das schon neurophysiologisch passiert, dass es energiesparend ist, wenn wir Routinen entwickeln und auf vertrauten Pfaden bleiben. Umso gemütlicher ist es, wenn wir dabei auch noch Begleitung haben.
Eine Chance, die man damit verpasst, ist die, sich mit Neuem, Anderem, Irritierendem, Provozierendem zu konfrontieren und damit möglicherweise (nicht zwangsläufig) seine eigenen Einstellungen zu überdenken, zu revidieren, zu erweitern. Ich erwähnte oben schon, dass ich vor einigen Jahren in einer Zeit der persönlichen Krise gar nicht in der Lage war, anderes als nette Trivialliteratur zu lesen. In der Rückschau war es jedoch ein regelrechter Quantensprung, als ich mit der Erweiterung meines persönlichen Einflussbereichs durch unseren eigenen Blog und durch das Kennenlernen anderer Blogs auf Bücher und Themen gestoßen bin, die ansonsten von mir völlig unbeachtet geblieben wären. Blogs wie der von Uwe Kalkowski in Kaffeehaussitzer, Mara Giese in Buzzaldrins Bücher, Norman Weiß in Notizhefte, Birgit Böllinger in Sätze&Schätze und einige andere mehr haben den Kreis der Bücher, die ich lese, enorm erweitert und – ganz offen und ehrlich und mit einem herzlichen Danke! an diese – mich zu einem Lesen gebracht, das nicht der reinen Unterhaltung dient, sondern eben auch neue Impulse gibt. Das ist mitunter anstrengend, es ist mehr Konzentration und Ausdauer gefordert, es ist unbequem, weg von der eigenen Einstellung zu gehen und sich auf etwas Anderes einzulassen, neue Gedanken zu denken und nachzuvollziehen.
So erlebe ich es auch an anderer Stelle: Fast jedes Mal, wenn ich auf Reisen gehe, frage ich mich am Flughafen, warum ich mir das antue, statt gemütlich mit einem kühlen Weizen und einem netten Buch auf der Terrasse zu sitzen (und dadurch viel Geld zu sparen). Und jedes Mal weiß ich im Grunde, warum: Es mag anstrengend sein, sich aufzurappeln. In vielen Fällen lohnt es sich aber. Das Beitragsfoto zeigt die Aussicht vom Kreuztempel auf die große Maya-Anlage in Palenque. Um diese Aussicht genießen zu können (und das Foto gibt bei Weitem nicht wieder, wie groß und beeindruckend die Anlage sich wirklich vor den Augen ausbreitete!), musste ich meine Höhenangst überwinden und 90m steile Stufen hinaufgehen, bei tropischen 35°C und fast 100% Luftfeuchtigkeit. Anstrengend war es, atemberaubend, mit manchem Blick zu meinen Füßen auch beängstigend. Manchmal ist es das wert. Immer wieder habe ich die Erfahrung gemacht, dass das, was mich beglückt, bereichert, beeindruckt, eben knapp außerhalb der persönlichen Komfortzone liegt.
Was ich damit sagen will: Wenn wir uns Toleranz gegenüber unserem Büchergeschmack wünschen, liegt es auch an uns, eine Haltung zu entwickeln, wie wir mit denen und mit dem umgehen, die unseren Geschmack nicht teilen. Abgrenzung kann eine Lösung sein (und ist es auch, wenn Andersdenkende lediglich abwerten und verletzen wollen). Es kann aber auch spannend sein, mal die eigene innere Komfortzone zu verlassen, Kritik als Impuls zu verstehen und sich mal auf Neuland zu begeben. Auch wenn es vielleicht erst mal verunsichert.
Liebe Andrea,
ich denke auch, daß es wichtig ist, sich nicht zu sehr zu beschränken oder beschränken zu lassen und – soweit möglich – nach einer Horizontweiterung zu streben. Dazu können auch Buchblogs beitragen; diese Erfahrung mache ich stets aufs Neue. Jede und jeder von uns ist Bücherfreund, liest aber anders und auch zur jeweils unterschiedlichen Zeit anders. Diese Vielfalt von Eindrücken macht gerade den Reiz des Bloguniversums aus.
Gleichwohl gestehe ich, Fantasy- und Vampirromane zu meiden und auch dazugehörige Blogs eher selten zu besuchen. Das Genre spricht mich nicht an und die knappe Ressource Zeit dient dann als zusätzliche Rechtfertigung.
Ich wünsche Dir weiterhin viel Spaß beim Lesen und viel Neugier! Besten Dank auch für die freundliche Erwähnung der Notizhefte in so illustrer Runde.
Viele Grüße
Norman
Hallo Norman,
schön, Dich hier zu lesen. 🙂 Und schön, dass die kleine Nebenbotschaft angekommen ist – ein ehrliches „Danke“ an die Blogger, die nicht nur lesenswerte Besprechungen schreiben, sondern damit tatsächlich auch anregend sind. Oft bekommt man das ja nicht mit, sondern sieht nur die Klicks auf den Blog und maximal einen gelegentlichen Kommentar. Aber für mich waren und sind Blogs oft sehr spannend, weil sie Bücher vorstellen, die ich sonst im Buchhandel vielleicht gar nicht wahrnehmen würde (oder der kurze Einblick beim Lesen des Klappentextes oft zu kurz greift).
Dass dabei nicht jede Anregung gleichermaßen dazu führt, sich selbst das Buch zu kaufen, ist logisch. In der Tat sind die Ressourcen begrenzt. Und man greift ja manchmal schon innerhalb der bevorzugten Genres daneben. Daher bleibe ich bei meinem Statement, dass die Leseauswahl höchstpersönlich und nicht zu bewerten ist.
Mein Impuls war der zu verstehen zu geben, dass es trotzdem gelegentlich lohnen kann, sich mal etwas Unvertrautes vorzunehmen, etwas, das herausfordert – und das findet sich oft eben neben dem ganz persönlichen „Mainstream“. Ob das gelingt oder nicht, merke ich im Endeffekt daran, ob ich nach der Lektüre sagen kann: „War anstrengend, aber hat sich gelohnt!“ – so wie auch das Überwinden des „inneren Schweinehundes“ an anderer Stelle lohnend sein kann.
Aber wo man das tun möchte – auch das ist eine höchstpersönliche Entscheidung.
Schöne Grüße nach Berlin!
Andrea
Liebe Andrea,
ein sehr schöner Beitrag, der meinen Abgrund-Beitrag nochmal erweitert. In Bezug auf die „Ich kann lesen, was ich will“-Haltung kann ich nur sagen: natürlich kann jeder lesen, was er will. Und er sollte als Person dafür nicht bewertet werden. Nichtsdestotrotz kann man aber trotzdem Literatur bewerten. Ich glaube, viele machen den Fehler, die Kritik an einem Buch mit Kritik an der eigenen Person oder den eigenen Vorlieben generell gleichzusetzen. Ich kann eine prima Person sein und trotzdem manchmal schlechte Bücher lesen. Ich selbst höre zum Beispiel manchmal schlechte Musik und mache mir darüber keine Illusionen. Manchmal ist mir eben danach. Ähnlich gibts das im Literarischen oder Filmischen.
Liebe Sophie,
danke für Deinen schönen Kommentar.
Ich denke auch, dass oft deswegen Unruhe in die Debatte kommt, weil Kritik oder andere Meinungen persönlich genommen werden. Und manchmal sind sie auch persönlich gemeint, was nicht gerade zu einer guten Diskussion beiträgt. Wenn aber eine gute Diskussion entsteht, ist es oft spannend, die Gegenargumente mal zu durchdenken. Ich erlebe es z.B. immer mal wieder, dass jemand ein Buch, das ich gut finde, ganz anders empfindet. Wenn dann dargestellt wird, warum das so ist, ist das oft nachvollziehbar – ich habe dann beispielsweise die kritisierten Dinge gar nicht als so gravierend empfunden.
Und natürlich kann (und sollte!) man nicht immer nur den Geist am Laufen halten. Schöne, unterhaltsame, aber wenig gehaltvolle Literatur hat auch was für sich und muss manchmal einfach sein. Da muss man auch gar nicht um die „Daseinsberechtigung“ streiten.
Mir ging es um einen Impuls, Kritik/andere Meinungen gelegentlich mal als Anregung und nicht als Angriff zu werten. Der Ton macht die Musik, aber wenn die stimmt, liegt es an mir selbst, wie ich das bewerte.
Liebe Grüße und ganz viel Spaß mit Literatur, Filmen und Musik jedweder Art – Hauptsache, es passt! 🙂
Andrea