29. März 2024

Das Glück finden? „Die Hochzeit der Chani Kaufmann“ von Eve Harris

Die Klagemauer in Jersusalem; Foto: Andrea Daniel

Womit wird man glücklich? Wie führt man ein erfülltes Leben? Sicher hat sich das schon fast jeder im Laufe der Zeit gefragt. Mittlerweile gibt es zahlreiche Studien, Forschungen und ganze Studiengänge („Positive Psychologie“), die sich mit diesem Thema beschäftigen. Macht Religion glücklich? Dies beantworten die Forschungen mit einem klaren „Ja, aber…“. Einerseits kann Religion Sinn, Orientierung und Gemeinschaftserleben schenken; ein wichtiger Faktor ist hierbei, dass der Einzelne sich eingebunden erlebt in etwas, was über ihn hinaus geht – er lebt für etwas, das weiterbestehen wird. Andererseits können starre Rollenerwartungen, Schuldgefühle beim Nicht-Erfüllen der Regeln und eine starre Fixierung auf die Religion Druck machen und Menschen in die Isolation führen.

 

Chani und Rebecca leben in einer jüdisch-orthodoxen Gemeinde in London. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts werden immer noch Ehepartner durch eine Heiratsvermittlerin zusammen geführt, dürfen sich Menschen unterschiedlichen Geschlechts außerhalb der Familie nicht einmal berühren, gibt es strenge Kleidungsvorschriften. Frauen sollen in erster Linie gute Ehefrauen und Mütter sein, von Empfängnisverhütung haben sie nur gerüchteweise gehört. Die Gemeinde bleibt unter sich, hat eigene Schulen und Colleges und kooperiert mit den Universitäten anderer orthodoxer Gemeinschaften.

Rebecca hat einst eine weit weniger religiöse Lebensweise kennengelernt. Sie hat sich gekleidet, wie es ihr gefiel, hat ihr Haar offen getragen, geflirtet, gefeiert. Während eines Auslandsaufenthaltes in Jerusalem lernt sie Chaim kennen, die beiden verlieben sich ineinander. Verbringen viel Zeit, haben Spaß miteinander. Dann verändert sich Chaim. Er will Rabbi werden, fortan ein streng religiöses Leben führen und Rebecca erst wieder berühren, wenn sie verheiratet sind.

Rebecca atmete langsam aus. Sie konnte nicht glauben, was sie da gerade hörte. Sein plötzliches Verlangen nach Zölibat traf sie vollkommen unvorbereitet. Er entglitt ihr. Sie konnte ihn nicht halten. […]

Chaim wirkte so entschlossen, so erwachsen in seiner Überzeugung. Vielleicht war sie nicht die Richtige für ihn. Sie stellte sich ihn neben einer kleinen fügsamen Frau vor, ihr Haar in ein Kopftuch gehüllt, der Stoff tief in die Stirn gezogen, ihre Gesichtszüge demütig und mild. Diese Frau war sie nicht.

Und dennoch erlebt auch Rebecca, wie sie fasziniert ist von der Religion, wie wohl sie sich in der orthodoxen Gemeinde fühlt. Und da ist ja auch noch ihre Liebe zu Chaim. Sie beschließt, ihm ein wenig entgegen zu kommen. Die beiden heiraten und Jahre später wird Chaim Rabbi einer orthodoxen Gemeinde in London.

Hier trifft, als Rebeccas Kinder schon fast erwachsen sind, die junge Chani Kaufmann auf sie, auf ihre Lehrerin, die sie auf ihre kurz bevorstehende Hochzeit mit Baruch vorbereiten soll. Chani hat Baruch erst vier Mal getroffen, die Regeln besagen, dass er ihr nun einen Antrag machen müsse. In wenigen Tagen ist die Hochzeit und Chani hat Angst, was sie erwartet. Groß geworden unter sieben Schwestern möchte sie, eine junge, schöne, intelligente, selbstbewusste und wache Frau, nun endlich ein anderes Leben beginnen, nicht mehr eine von vielen sein, nur der Erwartung unterlegen, nicht aufzufallen. Der Glaube ist für sie nicht das Wichtigste, sie hat das Sem, das religiöse College für Mädchen, nicht besucht, sondern früh angefangen zu arbeiten, um finanziell unabhängig zu werden. Dann kam Baruch und bietet ihr einen schnellen Ausbruch aus ihrer großen Familie. Baruch plant, Rabbi zu werden, will in wenigen Monaten mit seiner Frau nach Jerusalem gehen, um zu studieren. Er geht freundlich mit Chani um und bei aller gegenseitigen Nervosität, bei allen Unterschieden der Herkunftsfamilien, ist er der beste Heiratskandidat, den Chani bisher kennen gelernt hat. Ob sie ihn liebt? Sie weiß es nicht.

Bild: Diogenes Verlag
Bild: Diogenes Verlag

Eve Harris, selbst Tochter polnisch-israelischer Eltern, die jahrelang als Lehrerin an jüdisch-orthodoxen Mädchenschulen gearbeitet hat, spannt einen Bogen zwischen diesen beiden Frauen, die nur kurze Zeit miteinander verbunden sind: Hier Rebecca, in ihrer Funktion als die Frau des Rabbis nur noch „die Rebbetzin“ genannt, die ihrer Liebe folgt und sich selbst dafür zunehmend aufgibt. Dort die junge Chani, an der Schwelle zum Erwachsenensein, mit der Hoffnung, durch die Hochzeit ihr eigenes Leben beginnen zu können. In Rückblenden auf unterschiedliche Zeitebenen lernt der Leser die beiden Frauen kennen, beide alles andere als demütig und streng gläubig, beide fest eingebunden in die Strukturen des jüdisch-orthodoxen Lebens. Beide Frauen sind letztlich, wie so viele, von der Frage getrieben, wie sie in ihrem Leben glücklich werden können. Rebecca hat ein Leben erfahren, das ihrer Persönlichkeit entspricht. Sie gibt es auf zugunsten ihrer großen Liebe. Kleine und große Kompromisse bringen sie auf einen Weg, der so ganz anders ist als das, was sie sich erhofft hat. Ist es das wert? Trägt die Liebe, für die sie ihre Wünsche und Hoffnungen geopfert hat, sie dafür durch das Leben und durch Schicksalsschläge?

Chani, die noch ganz am Beginn ihres Lebens steht, will sich durch ihre Entscheidung zu heiraten die Möglichkeit erkämpfen, ihren eigenen Weg zu gehen. Ob dies gelingt, erfährt der Leser nicht, der Roman endet mit der von Chani gefürchteten Hochzeitsnacht. Nebenfiguren zeigen andere Wege des Umgangs mit dem Reglement der Religion auf.

Eve Harris schreibt leicht und flüssig. Es gelingt ihr, den Leser in die (den meisten) unbekannte Welt des jüdisch-orthodoxen Lebens mitzunehmen und die Faszination und die Schwierigkeiten erahnen zu lassen. Letztlich spielt der Roman mit der Frage, ob sich Glück eher in dem Einfügen in eine Gemeinschaft oder in dem Ausleben individueller Lebensvorstellungen finden lässt. Harris gibt keine Antwort darauf, lässt jedoch ihre Protagonistinnen lebendig werden, die mit diesen Fragen ringen.

 

Wenn man heute nach Jerusalem kommt, kann man es erleben, dass die Fahrstühle eines Hotels während des jüdischen Sabbats automatisch auf jedem Stockwerk halten. Das Gebot, während des Sabbats alle Arbeit ruhen zu lassen, wird hier dahingehend umgesetzt, dass man noch nicht einmal den Fahrstuhlknopf drücken muss. Aber auch andere absonderliche religiöse Riten habe ich in Jerusalem erlebt: christliche Pilger, die die Via Dolorosa (die „Straße der Tränen“ – den Kreuzweg, also die Wegstrecke, die Jesus Christus von seiner Verurteilung bis zu seinem Tod am Kreuz gegangen ist) nachgehen, können sich ein Holzkreuz ausleihen – und viele tun dies, um möglichst authentisch das Leiden Christi nachzuempfinden. Was aber die wenigsten davon abhält, am Ziel ihres Wegs, in der Grabeskirche, jenseits vom christlichen Gebot der Nächstenliebe ungehemmt Ellbogen und Fußabsätze einzusetzen, um sich in der großen Masse der Besucher die besten Plätze zu erkämpfen an der Stelle der Kreuzigung und der Grablegung Jesu. Und auch die Grabeskirche selbst ist heute ein Zankapfel von insgesamt sechs christlichen Konfessionen, die bei den geringsten Verstössen gegen die Regelungen der Gottesdienstzeiten durchaus schon mal ihre Fäuste gegeneinander einsetzen.

All dies mag skurril und für aufgeklärte Menschen fremdartig wirken. Dennoch haben Religionen seit Jahrtausenden für Menschen eine wichtige Rolle gespielt und tun dies heute für viele immer noch. Und auch ich habe einen kleinen Zettel mit einem Wunsch an der Klagemauer hinterlassen – wer weiß.

Eve Harris´ „Die Hochzeit der Chani Kaufmann“ ist ein gelungener Roman, der genau mit diesen Fragen spielt und hierbei insbesondere die Frauenrolle in einer jüdisch-orthodoxen Gemeinde mitten im modernen London in den Mittelpunkt stellt. Ich habe dieses Buch von der ersten bis zur letzten Seite gern gelesen und mich in diese fremdartigen Welt hinein ziehen lassen. Ein toller Roman!

 

Eve Harris: Die Hochzeit der Chani Kaufmann

Diogenes Verlag

464 Seiten

ISBN: 978-3-257-30020-8

 

Eine weitere Buchbesprechung findet sich auf dem Blog von „Papiergeflüster“.

Teile diesen Beitrag.
Über Andrea Daniel 61 Artikel
Bibliophil, kunstaffin und reisebegeistert bloggt Andrea über Bücher, Bücherreisen und anderes.

1 Trackbacks & Pingbacks

  1. „Die Schönheitskönigin von Jerusalem“ von Sarit Yishai-Levi: Vier Generationen im jungen Staat Israel – BücherKaterTee

Kommentare sind deaktiviert.