Normalität im Pluralismus?
Wie so oft in Deutschland bestand mein Dilemma letztlich nicht darin, ausgeschlossen zu werden – sondern vielmehr in den Bedingungen und Konditionen, an die das Dazugehören geknüpft war. Wäre ich bereit gewesen, in stummer Unterwürfigkeit zu lächeln, während man mir herzliches Beileid dafür ausdrückte, ein Bastard zu sein oder einen ausländischen Namen zu haben, hätte man mich akzeptiert.
Im Juli 2016 waren wir im Jüdischen Museum Berlin. Mich hat dieses Museum tief beeindruckt, denn es informiert sachlich und ohne moralischen Zeigefinger über das Leben der Juden in Deutschland, ihre Religion, ihr Alltagsleben, letztlich auch über die Progrome und den Holocaust. Juden haben sich in Deutschland und Europa dem Prozess der Integration, ja teilweise schon der Assimilation ausgesetzt und erleben doch immer wieder – wie es der Untertitel des Buches benennt – „fremd im eigenen Land“ zu sein. Yascha Mounk berichtet in seinem Buch von seinen eigenen Erfahrungen und denen seiner Familie. Und ja, auch diese war betroffen vom Holocaust, hat sich auf mehrere Länder und Kontinente verteilt, hat versucht, ihr Glück zu finden und eine Heimat.
Als Yascha Mounk in Deutschland geboren wird, ist der Zweite Weltkrieg fast vierzig Jahre vorbei. Deutschland hat sich zu einem demokratischen Land entwickelt, das Religionsfreiheit und Meinungsfreiheit in seinem Grundgesetz verankert hat und wirtschaftlich nach vorne geht. Mounk wächst auf wie ein normaler deutscher Junge – mit dem Unterschied, jüdisch zu sein. Und dieser Unterschied erweist sich als gravierender:
Dass ich ein Jude bin, wusste ich, weil Ala und Leon hin und wieder darüber diskutierten, ob dieser oder jener Prominente vielleicht auch ein Jude sein könnte. Dass ich Jude bin, wusste ich weil Ala jedes Mal, wenn irgendwo auf der Straße das Wort „Jude“ fiel, zusammenzuckte – und gleichzeitig den Hals reckte, um zu hören, was denn da gesagt wurde. Dass ich Jude bin, wusste ich, weil Ala – nachdem ich eine Fernsehsendung gesehen hatte, in der Juden vorkamen – fragte, wer denn diese seltsamen Wesen seien, und sie mir sagte: Das sind wir.
Mounk, 1982 geboren, erlebt keinen Hass gegen sich. Er erlebt, dass Menschen sehr unterschiedlich mit ihm umgehen: Ein Freund, der in der Beschäftigung mit dem Holocaust tiefe Schuldgefühle entwickelt, konvertiert zum Judentum – und stellt fest, dass ihm dies seine Schuldgefühle nicht nimmt. Eine Freundin reißt antisemitische Witze – um zu verdeutlichen, dass die Zeit vorbei sein müsse, in der Deutschland unter der Schuldfrage geknechtet sei. Kommilitonen wollen ihre Judenfreundlichkeit besonders unter Beweis stellen. Eins erlebt Mounk jedoch in Deutschland nicht: Dass er in seinem Jude-Sein ganz normal, als Deutscher behandelt wird. Letztendlich zieht er nach New York.
Mounk berichtet von seinen Erfahrungen und beleuchtet davon ausgehend die Auseinandersetzung Deutschlands mit dem Holocaust: Das Schweigen unmittelbar nach dem Krieg, die Aufforderung zur Diskussion und Debatte im Rahmen der 68er-Bewegung, der Philosemitismus und schließlich der Wunsch, alles endlich hinter sich zu lassen, einen Schlussstrich zu ziehen. Immer wird auch in dem persönlichen Erleben des Autors deutlich, dass ein normaler, unverkrampfter Umgang mit ihm, dem Juden, kaum möglich war. Sein Jude-Sein, selbst wenn er wenig religiös ist, bringt ihm meistens in eine Sonderstellung, lässt sein Umfeld mehrfach überlegen, was wie geäußert wird. Aus diesem Grund zieht er letztlich nach New York, einer Stadt, in der es Normalität ist, dass Menschen unterschiedlicher Herkunft, geografisch wie sozial, und unterschiedlicher Religionen zusammen leben – miteinander und nebeneinander.
Das Buch ist zweigeteilt. Die erste Ausgabe, die 2014 herauskam, endet hier. Die Entwicklungen in Europa 2015, die Eurokrise, der islamistische Terror und die Flüchtlingswelle, haben Mounk veranlasst, in 2015 eine erweiterte Fassung herauszugeben. Er greift dabei Fragen zur Integration, zum Wertekodex Europas und zu politischen Strategien der Zukunft auf und ordnet sie in den Kontext seiner eigenen Erfahrungen und seiner Schlussfolgerungen dazu ein. Er wirft dabei die Fragen auf, wie Pluralismus konkret gelebt werden kann, ohne naiv die Gefahren des islamistischen Terrors auszublenden. Wie Identitätsbildung gelingen kann, wenn diese nicht ausschließlich auf Nationalität und Religion fußt. Welche Werte Europa wirklich und nicht nur nominell tragen und wie sie in Zeiten der Krise kommuniziert, aufrecht erhalten und nachhaltig gelebt werden können. Mounk zeigt auf, dass dies nicht durch eine reine Forderung von Deutschen an Nicht-Deutsche, sich zu assimilieren, geschehen kann, sondern dass wir alle gefordert sind, uns dem (mitunter anstrengenden) Prozess der Bildung einer pluralistischen Gemeinschaft in Europa zu stellen und uns miteinander auseinander zu setzen. Im Idealfall kann daraus ein bereicherndes und konstruktives Miteinander entstehen sowie ein Nebeneinander in echter Toleranz.
„Echt, du bist Jude?“ ist kein Buch, indem sich der Autor mit Religion(en) auseinandersetzt. Mounk zeigt auf, welche Entwicklungen dazu geführt haben, dass er sich lange Zeit fremd in seinem Geburtsland fühlte, und er weist darauf hin, dass ähnliche Tendenzen einer funktionierenden Integrationspolitik und der Bildung einer echten pluralistischen Gesellschaft im Wege stehen können. Man kann in der Interpretation der deutschen Geschichte und der deutschen Politik seit 1945 sicher andere Meinungen vertreten als Mounk – aber er weist auf wichtige Diskussionspunkte hin, die heute aktueller sind als je zuvor. In Anbetracht seiner jüngsten Erfahrungen in Deutschland zeigt Mounk Anlass zur Hoffnung, dass sich gute Lösungsansätze für die aktuellen Krisenthemen finden lassen. Er weist aber auch auf die Gefahren des Populismus und eines rückwärtsgerichteten starrsinnigen Nationalismus hin.
Neben der intelligenten Auseinandersetzung mit den Entwicklungen in Deutschland hat mir der unterhaltsame Schreibstil Mounks und der Aufbau seines Buchs gut gefallen. Es gelingt ihm auf spannende Art und Weise, persönliche Erfahrungen mit politischen Themen zu verbinden, sodass das Buch „Fleisch“ hat, von einer abstrakten Debatte wegkommt zu konkreten Erfahrungen. Mounk hält sich fern von moralischen Verurteilungen, im Gegenteil, er begrüßt ein Selbstbewusstsein Deutschlands und sieht dies als Voraussetzung für ein Ankommen in der Normalität des Pluralismus.
Ein spannendes, hoch aktuelles Buch, das nicht nur nachdenklich macht, sondern auch einen hervorragenden Lesegenuss bereitet.
Yascha Mounk – Echt, du bist Jude?
Fremd im eigenen Land
Kein & Aber AG Zürich
272 Seiten
ISBN: 978-3-0369-5727-2