18. April 2024

Der letzte Herr des Waldes – Madarejuwa Tenharim/Thomas Fischermann

Foto: Andrea Daniel

Es gibt Menschen, die ausgerechnet haben, wie viele Bücher in einem Leben gelesen werden können. Selbst bei großzügigem Zeitbemessen und ausdauerndem Leseverhalten sind dies maximal 8000 bis 10.000 Bücher. Führt man sich vor Augen, wie viele Bücher jedes Jahr herausgebracht werden, wird deutlich, dass jeder Mensch nur einen minimalen Bruchteil der Bücher lesen kann, die es auf der Welt gibt. Noch weniger davon können auf einem Blog wie dem unsrigen besprochen werden.

„Der letzte Herr des Waldes“ ist jedoch ein Buch, das ich hier nicht nur vorstellen möchte, sondern das meiner Meinung nach auf jeden Fall zu den Büchern gehört, die es wert sind, von so vielen Menschen wie möglich gelesen zu werden. Es beansprucht darüber hinaus mit knapp 200 spannend geschriebener Seiten gar nicht allzu viel Lesezeit.

Selten komme ich so schnell zu einem solchen Resultat. Worum geht es nun in diesem Buch und warum bin ich der Meinung, dass es lesenswert ist?

Thomas Fischermann arbeitet als Journalist für die ZEIT mit dem Schwerpunkt Globalisierung und Weltwirtschaft; abwechselnd lebt er in Hamburg und Rio de Janeiro. Über Jahre hinweg hat er immer wieder Madarejuwa Tenharim begleitet, einen jungen Krieger aus dem indigenen Volk der Tenharim. Die Tenharim leben in der zentralen Region des Amazonasbeckens, nahe der kleinen Stadt Humaita in Brasilien, am Marmelos-Fluss. Unrühmliche Berühmtheit erreichte das Volk  durch kriegerische Auseinandersetzungen mit den Holzfällern, die immer größere Flächen des Regenwaldes abholzen, um Weideflächen für Rinderherden und Sojapflanzungen zu schaffen. Die Tenharim leben direkt an der Transamazonica, eine Fernstraße, die Brasilien in den 70er Jahren auf einer Länge von 4223 Kilometern von West nach Ost baute. Die mit dem Straßenbau einfallenden Westler brachten Krankheiten mit sich, denen die indigenen Völker schutzlos ausgeliefert waren: innerhalb weniger Jahre dezimierte sich ihre Zahl um mehr als 90%. Aufgrund dessen ist der Name Transamazonica für die Tenharim bis heute begrifflich dasselbe wie Krankheit und Leid. In den letzten Jahren ist das Volk der Tenharim wieder gewachsen. Gleichzeitig wird ihr Lebensraum durch die umfassenden Rodungen immer mehr eingeengt, sodass Holzfäller und indigene Völker häufig aufeinander treffen. Halbherzige Versuche der Regierung, zwischen den Holzfällern und den Amazonasvölkern zu vermitteln, scheitern oft und gipfeln in zahlreichen Konflikten, die immer wieder auch Todesopfer fordern. Außerdem grassieren etliche Schauergeschichten über die indigenen Völker, über ihre Grausamkeiten, ihrem Kannibalismus und so manches mehr.

Thomas Fischermann ist es gelungen, das Vertrauen der Tenharim zu gewinnen und er begleitet den jungen Madarejuwa immer wieder über Wochen in seinem Alltag, lässt sich seine Geschichte erzählen und die seines Volkes. Er darf Madarejuwa zu den Schamanen seines Volkes begleiten, zu einer Kriegerversammlung und einem Fest, er lebt seinen Alltag mit, bei der Jagd, in der Schule, bei der Essenszubereitung. Oft hat Madarejuwa auch geschwiegen, um keine Stammesgeheimnisse zu verraten. Oder er hat sich in Widersprüchlichkeiten verwickelt, in Neuinterpretationen. Und gleichzeitig lädt er Fischermann ein, sein Volk tiefgreifend kennen zu lernen. Dieses ist keineswegs unberührt geblieben von dem, was die Holzfäller, die Spekulanten, die Vertreter von Ölkonzernen, die Regierung immer weiter in das Amazonasbecken transportiert haben. Gerade die jungen Menschen zieht es in die Städte, sie besuchen die Schulen, wünschen sich Konsumgüter, lernen Portugiesisch. Oft sieht man sie mit Shorts und Baseball-Kappen bekleidet. Und doch sind sie tief verwurzelt in der Kultur ihres Volkes, das geprägt ist von dem Leben im Regenwald.

Fischermann versucht, ihnen eine Stimme zu geben, indem er in seinem Buch Madarejuwa zu Wort kommen lässt. Dieses Buch ist aus der Sicht Madarejuwas geschrieben; er erzählt aus seinem Alltag und wird als Autor benannt. Er wendet sich dabei direkt dem Leser zu, spricht ihn an, als ob dieser ihn auf seinen zahlreichen Exkursionen begleitet und dabei seine Fragen stellt – so wie es Fischermann im Kontakt mit Madarejuwa erlebt haben mag.

„Schon bei der Jagd nehmen wir die Tiere aus, und wir ziehen das Fell von ihnen ab. So haben die Tenharim es immer gemacht. Wir zünden ein großes Feuer an, und erst wird das Fleisch sehr heiß gegrillt; die Flammen sollen es berühren, damit es eine Kruste bildet. Danach liegt es stundenlang im Rauch. Es dauert, bis alles transportfähig ist. Bei Sonnenaufgang kommt das Fleisch aufs Feuer; zwischen vier und fünf Uhr packen wir es ein. Dann haben die Tierstücke und die Fische ringsum eine harte Kohleschicht. Kein Salz, das wäre ungesund.

Du hast wieder diesen skeptischen Blick, also lass es mich erklären. Das Fleisch ist nur außen so schwarz. Innen ist es sauber und saftig. Es hält sich lange, wenn es geräuchert ist, die Fische eine Woche und die Fleischstücke zwei. Unser Land ist groß, der Transport bis ins Dorf kann vier Tage dauern oder fünf. Wo es keine Flüsse gibt, können es auch zehn Tage sein. Der Rauch verändert das Fleisch, so dass es sich lange hält.“

Auf diese Weise ist der Leser eingebunden in die Erzählung, wird zum Ansprechpartner des jungen Kriegers. Und diese Form des Erzählens wirkt eindringlich und direkt.

Als Fremder ist es eine Gratwanderung und ein mitunter alles andere als einfaches Experiment, eine solche Aufzeichnung vorzunehmen. Zu Recht ist früheren Kulturanthropologen und Ethnologen vorgeworfen worden, ihre christlich-europäische Sichtweise in der Bewertung fremder Kulturen, ihre Sitten und Gebräuche, ihre sozialen Ordnungen und religiösen Handlungen einfließen zu lassen. Es bedarf einer Distanz zu und eines Bewusstseins der eigenen Position, um dieser Gefahr nicht zu erliegen – und genau dies schildert Thomas Fischermann im Schlussteil seines Buches ausführlich. Gerade deswegen ist dieses glaubwürdig und authentisch. Intensiv taucht der Leser ein in die Lebensweise der Tenharim, erlebt zunehmend, weswegen ihr Alltag und ihr kulturelles Verständnis so eng mit der Umgebung verknüpft ist, in der sie leben.

Ein wenig gelingt es daher, die eigene kulturelle Prägung für einen Moment loszulassen und einzutauchen in eine fremdartige, faszinierende und wertvolle Kultur, die, wenn man ihren Angehörigen zuhört, durchaus auch dem invasiven, global agierenden Westler eine Menge zu sagen hat. Gleichzeitig ist dieses Buch ein flammendes Plädoyer für ein Umdenken in der Abholzungspolitik, in der die Wirtschaftsbosse so eine große Lobby haben, und für den Schutz des Regenwalds, der „Lunge der Erde“. Und genau dies macht dieses Buch so wertvoll.

Ich danke ganz herzlich Petra Wiemann, die auf ihrem Blog „Elementares Lesen“ auf dieses Buch aufmerksam gemacht hat!

 

Madarejuwa Tenharin/Thomas Fischermann: Der letzte Herr des Waldes

C.H.Beck Verlag

205 Seiten

ISBN 978-3-406-72153-3

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Über Andrea Daniel 61 Artikel
Bibliophil, kunstaffin und reisebegeistert bloggt Andrea über Bücher, Bücherreisen und anderes.