Vor fünf Jahren ist Nora von Basel nach Hamburg gezogen, zu ihrem Vater, der vor sechs Jahren die Scheidung eingereicht hat. Nora lässt ihren Bruder Alex, ihre Mutter Bea und deren neuen Lebensgefährten zurück und lebt nun bei ihrem Vater, dessen neuer Lebensgefährtin Johanna und deren Kinder aus einer früheren Ehe. Nora hat gerade ihr Abitur gemacht und ist zum ersten Mal verliebt. Außerdem ist sie eng befreundet mit Cristina, deren Eltern einen dreckigen Rosenkrieg ausfechten. Johannas Sohn Tobias ist ebenfalls frisch gebackener Abiturient und ebenso frisch liiert mit Sherin.
Alles klar so weit? Nein? Diese ausgefeilte Patchwork-Mischung mit ihren vielfältigen unterschiedlichen Beziehungen ist der schwankende Grund, den Eric Nil zum Ausgangspunkt seines kleinen Romans „Abifeier“ macht. Einige Jahre konnte jeder und jede mehr oder weniger friedlich vor sich hin leben, nicht immer ohne Ärger, aber mit genügend Distanz. Noras Vater ist noch nie Johannas Exmann begegnet, dennoch leben dessen Söhne mit ihm. Sein eigener Sohn Alex hat seinem Vater bis heute nicht die Trennung verziehen, der Kontakt zwischen ihnen ist minimalistisch und eiskalt. Bea und Johanna haben sich ebenfalls noch nie gesehen. Jetzt aber steht die Abifeier von Nora und Tobias an und alle Komponenten dieser explosiven Mischung werden aufeinander treffen. Noras Vater, der Ich-Erzähler, versucht mit seiner Tochter, seiner Exfrau und seiner Lebensgefährtin einen sensiblen Plan zu entwickeln, um diesen Anlass nicht zum Sprengstoff werden zu lassen. Wochenlang wird an der Sitzordnung gefeilt. Und schon kleinste Veränderungen lassen alles wieder in sich zusammen fallen: Kurz vor der Feier trennt sich Nora von ihrem Freund -wer soll jetzt mit wem am Tisch sitzen? Was ist mit der Zeugnisübergabe, bei der Johannas Exmann sich dazu gesellen wird, Bea und Alex aber noch nicht dabei sind? Wer darf mit wem tanzen? Wer holt wen vom Flughafen ab, wer darf im Auto wo sitzen? Wie wird Alex auf das Wiedersehen mit seinem Vater reagieren? Und was sagt das alles aus?
Die besten Pläne nützen nichts. Es grätschen immer noch der Zufall und ungeahnte Gefühle mit hinein. Noras Vater muss sich eingestehen, dass er auf Johannas Exmann eifersüchtig ist. Ständig schielt er zu dem inzwischen harmonisch befreundeten Ex-Ehepaar und kocht fast, als diese fast den ganzen Abend miteinander tanzen. Sein Sohn legt eine eiskalte Höflichkeit an den Tag, lässt jeden Annäherungsversuch abblitzen. Nora muss, frisch getrennt, mit ihrem Ex und dessen Familie den Abend am selben Tisch verbringen. Und unerbetene Kommentare und Beurteilungen gibt es sowieso dazu.
„Wenn zwei Menschen sich verbinden“, sagte der Großvater, „kann nicht immer die Sonne scheinen.“ Aber man müsse eben lernen, auch mal die Zähne zusammenzubeißen, wenn einem etwas nicht passe. „Ist ja gut, Norbert“, sagte Lukas´ Großmutter und tätschelte die Hand ihres Mannes. „Ich sage nur, wie es ist“, sagte er. „Ich bin ein Ehrlichkeitsfanatiker. Das ist nicht mehr der Zeitgeist, das weiß ich schon. Heute wollen alle tolerant sein. Nur nicht sagen, was man denkt. Sondern immer schön tolerant bleiben. Heute mit diesem, morgen mit einem anderen, wie es einem gerade passt. Man ist ja tolerant. Aber ich finde es nun mal schade“, sagte er zu Nora, „ihr habt euch doch so gut verstanden! So was wirft man doch nicht einfach so weg wie einen alten Schuh.“
[…]
Bea nahm Nora in Schutz: Von jemandem in ihrem Alter solle man noch nicht gleich ewige Treue verlangen. Aber bedenklich sei – „und da gebe ich Ihnen recht“ -, dass viele sich nicht mehr die Mühe machten, eine Ehe zu retten. Zu schnell werde eine Ehe aufgegeben. „Nach dem Motto“, sagte sie, „wenn es nicht mehr klappt, starte ich eben eine neue Beziehung.“
Alex schaute mich an.
Eric Nil setzt das Szenario der Abifeier als Katalysator. In Rückblenden werden die Vorgeschichten der Protagonisten erzählt, werden die Beziehungen und emotionalen Verletzungen verdeutlicht. Es kumuliert in dem unvermeidlichen Aufeinandertreffen der Beteiligten, das die oberflächliche Harmonie gnadenlos zerreißt. Schon in den wochenlangen Vorbereitungen wird die Reibung immer größer. Und nicht nur Offensichtliches wird hier deutlich, auch längst vergessene und nie für möglich gehaltene Gefühle werden in dieser emotionalen Ausnahmesituation ins Bewusstsein gehoben und sprengen irgendwann die dünne Kruste zivilisierten Verhaltens.
Die treffend und nachvollziehbar geschilderten Beziehungen und Begegnungen werden untermauert von Eric Nils relativ trockenem Erzählstil. Der Dreh- und Angelpunkt dieser explosiven Mischung, Noras Vater, wird als Ich-Erzähler in den Mittelpunkt gestellt. Hochgradig involviert versucht dieser, die Fassung zu wahren. Das nüchterne Schreiben Nils zeichnet dies gut nach. Auch in dem Moment, in dem der Ich-Erzähler die Fassung verliert, aus der Haut und kurzfristig aus seinem geordneten Leben fährt.
Ich kenne aus eigener Beteiligung Patchwork-Situationen gut – zum Glück nicht in dieser brandheißen Konstellation. Aus diesem Grund hat mich Nils Roman sehr interessiert und ich habe ihn gerne gelesen, weil er authentisch erzählt und es dem Autor gelingt, diese Situation fast unbemerkt von einem feierlichen Anlass zu einem Kleinkrieg zu treiben. Fast ist es aber ein wenig schade, dass hier diese emotionale Ausnahmesituation in den Mittelpunkt gestellt wird, denn ebenso spannend ist im Grunde das alltägliche Miteinander in Patchwork-Konstellationen, das ebenso Stoff zahlreicher Verwicklungen und Reibereien bietet. Der Roman hätte gerne, da gut erzählt, noch länger sein können, um genau dies aufzugreifen. Denn letztlich untermauert der Alltag das, was Nil in Form des Minenfelds der Abifeier so hevorragend herausarbeitet.
Galiani Berlin
160 Seiten
ISBN 978-3-86971-165-2