Es gibt Zeiten, in denen verdichten sich bestimmte Themen. Irgendwann vor einigen Wochen ist mir aufgefallen, dass ich noch nie so viele Bücher mit jüdischen Protagonisten oder im jüdischen Kontext oder in Israel spielend gelesen habe wie in diesem Jahr: Marcia Zuckermanns „Mischpoke“, „Alte Sachen“ von Markus Flohr oder „Die Hochzeit der Chani Kaufmann“ von Eve Harris. Zum Ende des Jahres hin, nach einem wunderbaren Bücherabend in Klaus´ Lieblingsbuchhandlung, wurde mir dann „Die Schönheitskönigin von Jerusalem“, der Debütroman der jüdischen Journalistin Sarit Yishal-Levl, empfohlen. Die Autorin entfaltet hierbei die Geschichte einer von spanischen Juden stammenden Familie in Jerusalem und verknüpft diese mit der bewegenden Geschichte des Zionismus und der Staatsgründung Israels bis in die 60er Jahre des vergangenen Jahrhunderts.
Rafael Ermoza hat der falschen Frau in die strahlend blauen Augen geschaut. Fasziniert von ihr heiratet er dennoch standesgemäß eine andere und verflucht die Blauäugige als Dämonin. Nie vergisst er sie. Seiner Frau ist er ein treusorgender Ehemann – doch er liebt sie nicht. Der schlimme Zufall (oder doch ein Fluch?) wiederholt dieses Schicksal bei seinem Sohn, der zunächst aufbegehrt und seine blauäugige Liebe, die der falschen Familie entstammt, heiraten möchte. Bis eine Familientragödie auch ihn der rechtmäßigen Ehefrau zuführt, mit der er eine respektvolle, aber lieblose Ehe führt. Ihre erste Tochter Luna ist schon als Baby eine Schönheit. Und auch wenn sie kapriziös ist, wenig Achtung vor ihrer Mutter hat, so ist sie der Liebling ihres Vaters, dem sie nach der verlorenen großen Liebe wieder Lebensfreude schenkt – im Gegensatz zu ihrer Mutter, die keine Liebe zu ihrem Kind entwickeln kann.
Arme Kleine, was kann sie dafür, dass ihre Mutter, statt glücklich und stolz über ihr Töchterlein zu sein, das alle Herzen gewinnt, gar nichts empfindet, sich im Gegenteil sogar ärgert. In eine Zwangsjacke müsste man sie stecken, in die Nervenklinik Esrat Naschim einliefern. Sie wird irrsinnig, und wenn sie keinen Ausweg aus diesem Irrsinn findet, wird sie sich umbringen. Sie kann sich selbst nicht leiden, wie kann es sein, dass sie kein bisschen Liebe für ihr eigenes Kind aufbringt?
Die Heranwachsende zieht mit ihrer Schönheit die Blicke der Männer auf sich. Doch sie wartet auf den Traumprinzen. Als dieser ihr schließlich begegnet, heiratet sie schnell – und findet sich doch in dem Familienschicksal wieder, in einer lieblosen Ehe gefangen zu sein, während das Herz ihres Mannes einer anderen gehört. Auch ihre Ehe bleibt nicht kinderlos, doch auch Luna findet keine Verbindung zu ihrer Tochter. Dennoch ist diese die erste, die ihren Kopf durchsetzt, ihren eigenen Weg geht, unabhängig von dem, was ihre Familie von ihr erwartet. Glücklich wird sie trotzdem nicht. Oder vielleicht doch?
Sarit Yishai-Levi setzt diese Familiengeschichte in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts an, als der Zionismus in Verbindung mit dem Erleben von Verfolgung und Unterdrückung in unterschiedlichen Ländern Zehntausende Juden in das Gelobte Land bringt, über die Staatsgründung Israels 1948 mit den daraus resultierenden Konflikten mit der arabischen Welt bis in die 1960er Jahre hinein. Die Geschichte der aus Spanien stammenden und von dort vertriebenen Familie Ermoza wird mit dieser bewegten Zeit geschickt verknüpft. Yishai-Levi versteht es, den Leser zu fesseln und tief in die Geschichte hinein zu ziehen. Ihre Protagonisten sind Menschen, die zerrissen sind, von Ambivalenzen getrieben werden – hier die eigenen Sehnsüchte, die Liebe, der Wunsch nach ein wenig Glück, dort die Erwartungen der Familie, der Nachbarschaft, des Staates. Sie leiden an sich selbst, verstehen sich nicht, weil nicht sein kann, was nicht sein darf. Und versuchen, ihr Leiden zu kompensieren, glücklich zu werden mit dem, was seit Generationen bewährt ist und Sinnhaftigkeit und Anerkennung verspricht. Sie scheitern dennoch.
Yishai-Levi zeichnet ihre Figuren lebendig, anschaulich und authentisch, ebenso wie ihre Verbindungen untereinander, das Hadern, die Konflikte, das Unausgesprochene und das Verbotene, das nicht sein darf und letztlich doch wie dunkle Energie die Geschichte der Familie lenkt. Ich bin tief hinein getaucht in das Jerusalem des noch jungen Staates Israel, habe mit den Figuren gelitten, den Töchtern, die der Liebe ihrer Mutter entbehren und sich in ihrer Suche nach Liebe selbst verlieren; den Männern, die tapfer ihre Pflicht erfüllen gegenüber dem Staat und gegenüber ihrer Familie und dennoch ihr Glück nicht finden können. Der Roman erzählt unterhaltsam, gut strukturiert und lebendig die Geschichte einer Familie über vier Generationen. Nur zum Ende hin scheint der Autorin ein wenig die Luft auszugehen. Lunas Tochter Gabriela ist blass und konturlos gezeichnet, fast schon lieblos in den Roman geworfen. Ihre Geschichte endet in einem ans Kitschige grenzende Happy End, das dem ansonsten so dichten, durch und durch differenzierten Roman unwürdig ist. So bedauerlich dies ist, so sehr ist der Roman im Gesamten letztlich so gut durchkomponiert, dass ich trotzdem das Lesen sehr empfehle.
Warum ich in diesem Jahr so viele Romane mit jüdischem Hintergrund gelesen habe, weiß ich nicht. Wahrscheinlich war es ein Zufall. Dennoch ist es spannend, dass sich zum Ende des Jahres hin herauskristallisierte, dass wir im kommenden Jahr mit einer kleinen privaten Gruppe einige Tage nach Jerusalem reisen werden. Ich bin gespannt, ob sich meine Leseerfahrungen mit den Reiseerfahrungen verändern werden.
„Die Schönheitskönigin von Jerusalem“ von Sarit Yishai-Levi
Aufbau Verlag
618 Seiten
ISBN: 978-3-351-03631-7