Als das Auto die Pferdekutsche ersetzte, haben wir nicht die Pferde optimiert – wir haben sie in den Ruhestand geschickt. Vielleicht ist es Zeit, das Gleiche mit Homo Sapiens zu tun.
Yuval Noah Harari ist Historiker, er lehrt an der Hebräischen Universität Jerusalem. Neben Veröffentlichungen zur Militärgeschichte ist ein weiterer Schwerpunkt des Autors die Forschung zu universalhistorischen Thesen. In diesem Kontext brachte er 2012 sein weitbekanntes populärwissenschaftliches Buch „Eine kurze Geschichte der Menschheit“ heraus. Während Harari darin die bisherige Entwicklung des Menschen vom „Homo Erectus“ bis zum „Homo sapiens sapiens“ beleuchtet, wagt er in dem nun vorliegenden Werk einen Blick in die Zukunft des Menschen.
Bis zum heutigen Zeitpunkt war die Menschheit vor allem mit drei Themen beschäftigt: Die Abschaffung von Hunger, Krankheit und Krieg. Und auch wenn die täglichen Nachrichten anderes suggerieren mögen, so hat die Menschheit tatsächlich statistisch betrachtet einen Tiefpunkt in der Zahl kriegerischer Auseinandersetzungen, Seuchen und vom Hungertod bedrohter Menschen zu verzeichnen. Was also nun? Was wird die Menschheit zukünftig beschäftigen? Denn eins hat sich historisch immer wieder gezeigt: sich mit dem IST-Stand zufrieden zu geben ist des Menschen Sache nicht. Harari wirft die These auf, dass es wieder ein Dreiklang sein wird: die Arbeit an der menschlichen Unsterblichkeit und der Ausschaltung (oder mindestens großzügige Verzögerung) des Todes, Glück sowie Göttlichkeit (im Sinne von Optimierung menschlicher Fähigkeiten). Die Mittel der Wahl sind bereits da und müssen nur weiterentwickelt werden. Die Biotechnologie verändert das bisher Vorhandene, beispielsweise durch die Gentechnik. Die Cyborgtechnologie verbindet den Menschen mit Maschinen. Doch erst in der Schaffung nicht-organischer Lebewesen wird der Mensch durch intelligente Software abgelöst. Dazu später mehr.
Zunächst geht Harari wieder zurück in die Menschheitsgeschichte und zeigt den großen Siegeszug auf, den der Mensch durch die Nutzbarmachung des gesamten Planeten antrat. Während der Mensch anfänglich ein kleiner Teil des globalen Ökosystems war, eroberte er nach und nach jeden Teil der Erde. Was jedoch legitimiert den Menschen, dabei gnadenlos Flora, Fauna und natürliche Ressourcen für sich zu nutzen? Zunächst waren dies Narrative, also Geschichten, die die Höherwertigkeit des Menschen zementierten. Hier sind in erster Linie die Religionen zu nennen, die den Menschen als „Krone der Schöpfung“ eine übergeordnete Rolle zuweisen und den Auftrag erteilen, „sich die Erde untertan zu machen“ und eine Rangfolge der Wertigkeiten von Lebewesen zu erstellen. Automatisch entstand ein Sinngefüge, in dem dem Menschen in vertikaler Linie ein exponierter Platz eingeräumt war – über ihm standen nur noch die Götter, mit denen lange Zeit unerklärbare Phänomene wie Naturkatastrophen, Schicksalsschläge etc. eine Zuordnung bekamen. In horizontaler Linie verfügt der Mensch über einzigartige Fähigkeiten, flexibel auf sich verändernde Bedingungen zu reagieren, sich untereinander auch in großer Zahl zu vernetzen, Kooperationen einzugehen und untereinander einen Informationsfluss herzustellen. Letzteres mündete in die Entwicklung der Schrift, mit der die Narrativen und persönliche Erfahrungen an entferntere Gruppen und an zukünftige Generationen weitergegeben werden konnten und die nicht zuletzt ermöglichte, sich vom Konkreten zu lösen und Abstraktes Wirklichkeit werden zu lassen (ein Beispiel ist die Erfindung des Geldes, das sich vom konkreten Sachwert einer Gold- oder Silbermünze löste, sodass ein im Sachwert billiger Papierschein einen gemeinsam festgelegten höheren Wert erhalten konnte). Lange Zeit war darüber eine Stabilität gesichert.
Aber dann löste Charles Darwin die Sonderstellung des Menschen auf, als er seine Evolutionstheorie zu entwickeln begann. Auf einmal fiel der Mensch von seinem Thron und wurde zu einem Tier mit an der Umwelt angepassten Fähigkeiten, der von denselben Tieren stammt, die er zu unterwerfen trachtet. Nicht nur das: Sämtliche Versuche, diese exponierte Stellung zurückzuerobern, in dem dem Menschen besondere einzigartige Eigenschaften zugeschrieben wurden, scheiterten. Ob als Unterscheidungskriterium die Intelligenz, die Nutzung von Werkzeug oder die Entwicklung von Bewusstsein herangezogen wird – nirgendwo lässt sich mehr eine klare Trennlinie zu den Tieren ziehen. Der damit verbundene Sinnverlust stieß und stößt auf heftige Gegenwehr (z.B. bei der nach wie vor geringen Akzeptanz der Evolutionstheorie und den Gegenentwürfen durch Kreationisten). Der zeitgleich aufkommende Humanismus versuchte eine neue Sinngebung, die dieses Mal in den Einzelnen internalisiert wurde, der durch die Erforschung seiner selbst, seinen Emotionen, Erfahrungen und seinem Verstand unabhängig von äußeren Einflüssen zu rationalen mündigen Entscheidungen kommen soll und damit eine ihm immanente Sinngebung entwickelt. Diese Annahmen waren so mächtig, das ihnen Entscheidungen wie Regierungsbildung (in Form von Stimmabgabe bei den Wahlen), die Wahl des richtigen Ehepartners, die Berufswahl etc. unterworfen wurden.
In horizontaler Ebene löste sich der Mensch von der Bewältigung seiner Gegenwart, die beschwerlich genug war, und begann, den Blick in die Zukunft zu werfen, vorhandene Probleme nicht einfach hinzunehmen, sondern Lösungen zu entwickeln. Langsam entstand der Glaube an eine permanente Verbesserung, aus der sich der Kapitalismus mit seinem Wachstumsgedanken entwickelte: Wachstum sollte in zunehmendem Maße Verbesserungen für alle erzielen (hier lässt sich allerdings die Frage aufwerfen, ob dies nicht dennoch die alten Verhältnisse stabilisierte, da die Verbesserungen nur aus dem „Mehr“ erfolgten und weniger aus einer Umverteilung dessen, was die oberen Klassen im Überfluss hatten und weiter vermehrten). Zunehmend wird deutlich, dass dies nicht unendlich fortgesetzt werden kann, da das globale Klimasystem schon jetzt massiv verändert wurde und sich die Folgen bereits zeigen – bisher jedoch noch nicht in einer Form, die den Menschen zu wirklich einschneidenden Veränderungen bewegt hätte.
Die Forschungen gingen weiter und entlarvten nach und nach auch die Grundlagen des Humanismus als obsolet. Ein einheitliches ICH, eine Struktur, die den individuellen Menschen ausmacht, konnte (bisher) nicht gefunden werden. Stattdessen entdeckte man die elektrochemischen Wirkweisen der neuronalen Verbindungen, den Einfluss von Hormonen und anderen Stoffen auf die Gefühlslage und die Steuerung und Koordinierung der unterschiedlichen körperlichen Funktionen durch das komplexe neurologische System des Gehirns. Von einer Seele oder einem Geist keine Spur. Zahlreiche Forschungen haben gezeigt, wie sich Stimmungen und Fähigkeiten durch Einfluss von außen (Medikamente und Drogen, elektrische Stimulation von Gehirnregionen etc.) unbeeinflusst von einem ICH verändern lassen. Kurz gesagt: Der Mensch, sein Fühlen und seine Entscheidungsfindungen ist ein Produkt seiner Algorithmen und dementsprechend manipulierbar – von einem freien Willen keine Spur. Algorithmen, die bereits entschlüsselt sind, Algorithmen, die sich weiterentwickeln lassen. Schon jetzt findet man sie allgemein bekannt z.B. bei der Suchmaschine Google oder bei Partnerbörsen, die nach bestimmten Algorithmen Vorschläge für passende Partner machen.
Harari spinnt diesen Gedanken weiter: Die Welt kann demnach betrachtet werden als eine riesige Menge an Datenströmen. Die Bewältigung dieser Informationen sowie deren Beurteilung überfordert den einzelnen Menschen bereits jetzt an vielen Stellen. Rechenmaschinen – Computer – haben jedoch enorme Kapazitäten. Das Ende der Weiterentwicklung dieser elektronischen Verarbeitung von Daten ist aktuell nicht abzusehen und könnte die biochemischen Algorithmen des Menschen ablösen, um sinnvolle Entscheidungen zu finden. Der Mensch im Einzelnen wie als Gesellschaft würde nur noch als Instrument zur Aufstellung elektronischer Algorithmen dienen. Wem dies zu abstrakt ist, der möge mal an sein Handgelenk schauen: zahlreich verbreitet sind bereits jetzt schon „Fitnessarmbänder“, die biometrische Daten erheben, in einer Datenbank auswerten und davon ausgehend Ernährungs- und Bewegungshinweise zur Optimierung der Gesundheit geben können. Dies hat Folgen: Die Sonderstellung des Menschen findet ein Ende. Und nicht nur das – möglicherweise wird er übertrumpft von einem überlegenen System und muss sich – wie es in der Diskussion um den Umgang mit Flora und Fauna schon einmal Thema war – seinerseits fragen, welche ethischen Maßstäbe im Umgang mit ihm angelegt werden sollen und mit welcher Berechtigung.
Indem der Dataismus die menschliche Erfahrung mit Datenmustern gleichsetzt, bringt er unsere wichtigste Quelle von Autorität und Sinn ins Wanken und kündet von einer ungeheuren Glaubensrevolution, wie wir sie seit dem 18. Jahrhundert nicht erlebt haben. In den Zeiten von Locke, Hume und Voltaire behaupteten Humanisten, Gott sei „ein Produkt der menschlichen Vorstellungskraft“. Heute zahlt es der Dataismus den Humanisten mit gleicher Münze heim und erklärt: „Ja, Gott ist ein Produkt der menschlichen Fantasie, aber die menschliche Vorstellungskraft ist ihrerseits das Produkt biochemischer Algorithmen.“ Im 18. Jahrhundert drängte der Humanismus Gott an den Rand, indem er von einem deozentrischen zu einem homozentrischen Weltbild überging. Im 21. Jahrhundert könnte der Dataismus die Menschen an den Rand drängen, indem er von einer homozentrischen zu einer datazentrischen Weltsicht wechselt.
Was wie eine Dystopie wirkt, hat seine Anfänge bereits genommen. Menschen stellen bereitwillig Daten zur Verfügung, wenn sie soziale Netzwerke bedienen und Gesundheitsdaten virtuell auswerten lassen. Paradigmenwechsel hat es in der Menschheitsgeschichte immer wieder gegeben, Narrative wurden verändert, Entscheidungsfindungen darauf angepasst. Harari betont, dass die vorgestellten Szenarien keine zwangsläufige Entwicklungen sind, sondern auf ein Weiterdenken der aktuellen Entwicklungen beruhen. Auf diese gedankliche Reise nimmt er den Leser mit.
Ich gestehe, dass ich mit völlig anderen Erwartungen an dieses Buch herangegangen bin. Ich bin ausgegangen von einer Vorstellung technischer Möglichkeiten und dem, was sie für den Menschen an Veränderungen mit sich bringen. Eine von außen aufoktroyierte Entwicklung also, auf die der Mensch reagiert. Harari führt den Leser stattdessen heran an eine dem Menschen immanente Weiterentwicklung. Indem er aufzeigt, nach welchen Maßstäben sich der Mensch in der Vergangenheit ausrichtete, entwickelt er eine kohärente Idee des Menschen in der Zukunft. Eine Idee, die schockiert und zu Widerspruch anregt. Auch dafür hat Harari im Schlussteil Anregungen aufgezeigt. In meinen Augen hätte dies gern mehr Platz und Diskussion haben können. Nichtsdestotrotz: Harari überzeugt mit seinen vielschichtigen und nachvollziehbaren Argumentationssträngen. Gleichzeitig schreibt er unterhaltsam und gut verständlich. Dieses Buch ließ mich nicht unberührt, Gedanken gären weiter, Althergebrachtes erscheint in neuem Licht. Wer sich dem aussetzen mag, für den ist dieses Buch eine klare Leseempfehlung!
Ich danke dem C.H. Beck Verlag für die Überlassung dieses Leseexemplares.
Weitere lesenswerte Besprechungen findet sich bei „Literatur im Fenster“ von Dagmar Eger-Offel und bei „Brasch & Buch“ von Thomas Brasch.
Yuval Noah Harari: Homo Deus – Eine Geschichte von Morgen
Verlag C.H.Beck
576 Seiten
ISBN 978-3-406-70401-0