19. März 2024

Nach der Parade – Moritz Hildt

Foto: Andrea Daniel

Irgendwann war er wieder am Lee Circle. Hier hatte er, zu Beginn dieser Nacht, die zur längsten seines Lebens geworden war, die Parade gesehen. Jetzt glänzte der Asphalt leer im Licht der Straßenlaternen. Im Vorbeigehen blickte Baumann hinauf zu den Stufen, die zur Säule hoch führten. Ihm fiel ein, dass er den Pappteller dort stehen gelassen hatte. Aber der war ebenso verschwunden wie alles andere. Nicht eine einzige Spur war geblieben.

Der General blickte noch immer mit verschränkten Armen nach Norden.

Worum geht es?

Der Wirt in der Kneipe hatte die Frage gestellt, wie er eine Bestellung aufnehmen würde. Und genauso einfach war die Frage auch. Doch Baumann konnte sie nicht beantworten.

Es ist ein Glücksfall: In der Mitte seines Lebens erhält Frank Baumann die Möglichkeit, ein Jahr auszusteigen. Seine Frau Eva hat einen Forschungsauftrag in New Orleans erhalten, er selbst konnte freigestellt werden und will sich nun endlich seinem Lebenstraum widmen: einen Roman zu schreiben. Während Eva sich in die Arbeit stürzt, genießt Baumann lange Spaziergänge durch die Stadt. Er geht Kilometer um Kilometer und lässt Ideen und Einfälle zu seinem Roman in sich einströmen.

In seinem Leben hat es sich Baumann gut eingerichtet. Er ist zufrieden. Nach seinem Studium ist er im Hochschulbetrieb hängen geblieben, hat Karriereambitionen relativ schnell begraben und ist damit im Reinen, wenn er, auch bei seiner Frau, erlebt, welchem Druck und Stress all jene ausgesetzt sind, die nach mehr streben. Seine Ehe plätschert so dahin. Alles scheint im Fluss. Nur eins setzt sich in ihm fort: der Wunsch, Schriftsteller zu werden, und sei es, um nur einen einzigen Roman zu veröffentlichen. Und so stürzt sich Baumann in die freie Zeit, die ihm die einjährige Auszeit in New Orleans bietet, um sich ganz auf dieses Projekt zu konzentrieren.

Ein halbes Jahr später fließen die Ideen nur noch sporadisch, die Inspirationsquellen scheinen zu versiegen, Baumann hängt seinem Zeitplan grenzenlos hinterher. Es ist Februar, die Zeit des Karnevals in New Orleans, und eines Tages macht sich Baumann auf, um ein neues Notizbuch zu kaufen. Er gerät in den Trubel des Karnevals, und anschließend ist nichts mehr wie es war.

Nur drei Tage im Leben Baumanns beschreibt Moritz Hildt in seinem Debütroman. Die äußere Handlung ist schnell erzählt: Baumann feiert unfreiwillig den Karneval mit, eine Parade verhindert, dass er wie geplant sein Notizbuch kaufen kann. Einen Tag verbringt er im Sumpf im Norden New Orleans mit seiner Frau und einem ihrer Kollegen. Mit ihnen geht er auf eine Party, und in der Nacht sind es zwei Äußerungen seiner Frau und eines Barkeepers, die sein Leben ins Schwanken bringen. Er irrt durch die Stadt, mitten im Höhepunkt des Karnevals am Mardi Gras, tanzt mit einem Skelett einen Totentanz, beobachtet ein Bestattungsritual und betrinkt sich.

Alles geschah in einem Moment. Baumann schwebte. Er war leicht, ganz leicht. Auch ein Fallen kann sich wie ein Schweben anfühlen. Dieser Gedanke blitzte kurz in seinem Kopf auf. Doch noch ehe Baumann überlegen konnte, ob dieser Unterschied noch wichtig war, sog es ihn wieder hinab in den Mardi Gras.

Nur ein Zeitraum von drei Tagen und nichts passiert, was nicht schon einmal geschehen ist – und dennoch verändert sich alles für Baumann, ohne dass er weiß, was dies für ihn bedeutet.

Moritz Hildt hat selbst mehrmals in New Orleans gelebt oder seinen Urlaub hier verbracht. Er kennt die Stadt gut, seine Beschreibungen sind präzise und spiegeln die Atmosphäre eines Ortes wider, in dem der Tod, in dem Unglück und unvorhersehbare Ereignisse den Lebenswillen ihrer Bewohner nicht brechen können, ihre Haltung aber massiv beeinflussen. Der Hurrican „Katrina“ im Jahr 2005 hat der Stadt seinen Stempel aufgedrückt, ebenso wie Wirbelstürme vorher und nachher. Die Menschen hier wissen um die Unberechenbarkeit des Lebens, sie wissen darum, dass in kurzer Zeit nichts mehr so sein kann wie es war. Und sie setzen sich dem entgegen, indem sie das Leben feiern. In diese Stadt kommt Baumann. Sein Leben schien festgelegt, klar vorhersehbar, garniert mit einem kleinen Traum, dessen Umsetzbarkeit unklar ist, aber auf gar keinen Fall großen Einfluss auf seinen Alltag hat. Und hier, am Mardi Gras in New Orleans, verschieben sich die Bewertungsmaßstäbe und schleudern Baumann in eine Orientierungslosigkeit, die er nicht einzuordnen weiß, aber zurückhaltend begrüßt.

 

Moritz Hildts große Stärke ist seine Sprache. Ihm gelingt es, eine Atmosphäre aufzubauen, die weit über das geschriebene Wort hinaus geht. Er baut Szenen auf, die den Leser in das Buch hineinziehen und, ebenso wie im Plot, die Grenzen zwischen realem Geschehen und Gedanken, Gefühlen, Ahnungen verschwimmen lassen. Das eigentliche Geschehen ist nicht im Äußeren, es findet im Inneren Baumanns statt, was Hildt beschreibt, was sich aber vielmehr durch die Bilder vermittelt, die der Autor aufbaut. Im gesamten Roman wird der Protagonist fast ausschließlich bei seinem Nachnamen genannt – Baumann ist laut Wikipedia (Stand: 30.05.19) der 61.häufigste Nachname in Deutschland. Ein Allerweltsmann mit einem Allerweltsleben irgendwo im Durchschnitt und in der Normalität, ohne größere Auffälligkeiten, nichts, was ihn von der Masse unterscheidet. Und dann kommt Baumann in diese Stadt, in diesen Karneval, was alles ver-rückt, was ihm bisher sicher und selbstverständlich erschien. Was dies bei Baumann bewirkt, deutet Hildt nur an, lässt es offen. Ebenso bleibt er damit die Antwort auf die Frage schuldig, ob es sich lohnt, seinen Träumen nachzugehen oder ob es ein gefährlicher Sumpf ist, der einen verschlingt, ein Sturm, der alles vernichtet. Was wiederum, wie die Einwohner von New Orleans real erfahren, zum Leben dazu gehört.

 

Ich empfehle, sich für diesen Roman Zeit zu nehmen, es ggf. sogar in einem Stück zu lesen (was bei knapp 200 Seiten problemlos an einem freien Nachmittag möglich ist). Denn obwohl die Handlung überschaubar ist, ist das, was Moritz Hildt beschreibt, von großer Dichte. Außerdem ist es ein Genuss zu lesen, wie der Autor die Szenerie und die Atmosphäre aufbaut – ganz großes Kino, wie Lebensthemen hier verdichtet werden!

Ein bemerkenswerter Debütroman.

 

Moritz Hildt: Nach der Parade

duotincta Verlag

200 Seiten

ISBN 978-3-946086-40-6

 

Ich danke herzlich für die Überlassung des Leseexemplars. Dies hatte keinen Einfluss auf meine Bewertung.

Jedoch gebe ich gerne zu, dass mir die Gespräche mit dem Autor und den Verlagsmitarbeitenden während der Leipziger Buchmesse 2019 und bei dem ein oder anderen Bier im Beyerhaus außerordentlich gefallen haben.

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Über Andrea Daniel 61 Artikel
Bibliophil, kunstaffin und reisebegeistert bloggt Andrea über Bücher, Bücherreisen und anderes.