Ich hüte mit einem Infekt das Bett und wünsche mir etwas unterhaltsame Lektüre. Vor einigen Wochen habe ich „Spiel der Zeit“ von Jeffrey Archer geschenkt bekommen, ein Roman, der durchaus meinen Vorlieben entspricht: eine interessante Familiengeschichte in einem historischen Kontext, auf längere (Lese-) Zeit ausgerichtet. Also lese ich die knapp 530 Seiten in zwei Tagen. Ja, unterhalten hat es mich. Aber…
„Spiel der Zeit“ ist der Auftakt einer mehrteiligen Roman-Saga um die Familie Clifton. Harry Clifton wächst ohne Vater auf. Dieser sei im Ersten Weltkrieg gefallen, sagt ihm seine Mutter – dass das nicht so ganz stimmig ist, hat Harry schnell herausgefunden, schließlich ist er 1920 geboren worden. Dennoch sind die Umstände, unter denen sein Vater gestorben ist, ein gut gehütetes Familiengeheimnis. Harrys Mutter hält sich mit kleineren Jobs über Wasser, im selben Haushalt lebt ihr trunksüchtiger Bruder Stan, dem Harry gerne heimlich zu seiner Arbeit im Hafen folgt, die Schiffe beobachtet und den Trubel. Ein großer Teil der Männer arbeitet für die riesige Schifffahrts-Gesellschaft der Barringtons, so auch Stan. Harry schwänzt die Schule, die ihn herzlich wenig interessiert. Bis er eines Tages die Möglichkeit erhält, ein Stipendium für eine Eliteschule zu ergattern. Mithilfe einer Zufallsbekanntschaft, die sich zu einem väterlichen Freund entwickelt sowie seines Lehrers beginnt Harry zu lernen. Und schafft es. Im Internat lernt er nicht nur, sich in gesellschaftlich höheren Kreisen zu bewegen, er freundet sich auch mit dem Barrington-Spross Giles an. Er lernt seine Familie kennen; der Familienvater begegnet ihm jedoch unerklärlicherweise mit großem Misstrauen und Zurückhaltung. Als Harry sich in Giles´Schwester Emma verliebt, nimmt die Katastrophe ihren Lauf und es zeigt sich, wie sehr die Familiengeschichten der Cliftons und der Barringtons auf unglückselige Weise miteinander verwoben sind…
Jeffrey Archer lässt die Geschichte aus der Sichtweise fast aller Protagonisten erzählen und wechselt dabei auch die zeitlichen Perspektiven. Hierdurch kommt es zwar gelegentlich zu Wiederholungen der Handlung, jedoch werden immer wieder neue Details hinzugefügt, sodass sich im Laufe der Zeit ein Gesamtbild ergibt und die Protagonisten gut in die Geschichte eingewoben werden. Das und das „Rohmaterial“ der Geschichte, der Plot, hat mich angesprochen und Interesse geweckt. Im Laufe der Lektüre wurde ich jedoch immer ärgerlicher, und das hatte mit zweierlei zu tun: Zum Einen wurde die Geschichte an vielen Stellen unglaubwürdig. Zum Beispiel erscheint es mir bei allem fortschrittlichen Denken wenig realistisch, dass der Sohn einer alleinerziehenden Kellnerin einfach so in die reiche und gesellschaftlich hochstehende Familie Barrington aufgenommen wird und alle von der geplanten Hochzeit der Tochter einer Schifffahrtsdynastie mit diesem Arbeiter-Sohn begeistert sind. Auch die Motivation hinter den Handlungen der einzelnen Personen bleibt häufig unklar und hinterlässt Fragen.
Zum Anderen sind die Protagonisten extrem holzschnittartig charakterisiert, eine Schwarz-Weiß-Zeichnung, die holprig und ohne Schärfe ist, sodass die Protagonisten in keinerlei Weise an Format gewinnen. Von dem Ehehemmnis, das der Heirat Emmas mit Harry entgegen steht, wissen drei Menschen, die Harry nahestehen – alle drei schweigen. Bis zu den schicksalsschwangeren Worten des Traupfarrers: „[…] weshalb jeder, der einen berechtigten Grund dafür vorbringen kann, warum diese beiden nicht nach Recht und Gesetz vereint werden sollten, jetzt sprechen oder für immer schweigen möge […]“ – erst hier ergreift Harrys väterlicher Freund das Wort und verhindert die Eheschließung. Bei der Vorstellung, dass jemand, der mir nahesteht, erst in diesem theatralischen Moment die Zähne auseinanderbekommt – und mir gegenüber zuvor nie ein Wort von seinen Einwänden erwähnt hätte – würde ich gepflegt explodieren und die Beziehung und Freundschaft deutlich anzweifeln – nicht so Harry, der in seiner Güte lediglich in Melancholie verfällt und nur daran denkt, es Emma zu ermöglichen, einen anderen Mann zu finden, mit dem sie glücklich werden kann.
Das ist so „einfach gestrickt“, dass ich mich regelrecht veräppelt fühlte. Archer schreibt nicht zum ersten Mal einen Roman, er scheint es seinen Lesern jedoch nicht zuzutrauen, sich mit komplexeren Charakteren auseinander zu setzen. Hinzu kommt, dass durch diese extreme Vereinfachung kein Bild von den Protagonisten entsteht, die Motivationen ihres Handelns bleiben ebenso verborgen wie Vorstellungen zu ihrem äußeren Erscheinungsbild, der ganze Roman wirkt dadurch hohl. Brutal ist auch der plumpe Cliffhanger, der unverhohlen auf den zweiten Band verweist.
Es ist sehr schade: Das Material hat Potential für eine unterhaltsame, spannende Story. Archer beherrscht die Methoden des Erzählens. Die Schwächen des Romans liegen allerdings klar in der Zeichnung der Figuren sowie der manchmal lieblosen Oberflächlichkeit bei der Einbindung des Plots in die historischen und gesellschaftlichen Gegebenheiten Englands in der Zeit zwischen den Weltkriegen. Das heißt für mich auch: Die Folgebände der Saga werde ich nicht lesen. Dieser Roman hat mich unterhalten und gleichzeitig geärgert.
Eine Besprechung des Hörbuchs findet sich bei Mina in ihrem Blog Aig an taigh.
Jeffrey Archer: Spiel der Zeit
Wilhelm Heyne Verlag München
ISBN: 978-3-453-47134-4
560 Seiten (mit Leseprobe zum zweiten Band)