Das Jahr 2012 – Donal Ryan lässt 21 Menschen zu Wort kommen. Er zeigt 21 Einsichten in das eigene individuelle Schicksal der Erzählenden, 21 Erlebnisse im Schicksal Irlands, das gesellschaftlich unter der Immobilienkrise zu zerbrechen droht – und 21 Ansichten zu Bobby, dem Vorarbeiter.
Bobby wartet auf den Tod seines Vaters. Des Vaters, dessen Respekt ihm versagt ist. Bobby überlegt immer mal wieder, ob er seinen Vater töten soll, damit er zufrieden sein kann, sich nicht immer in Frage gestellt fühlen muss.
Foto: Diogenes Verlag
„Ich habe gestern den ganzen Tag darüber nachgedacht, meinen Vater umzubringen. Es gibt Mittel und Wege, einen Mann umzubringen, ohne dass es nach Mord aussieht, besonders einen alten, gebrechlichen. Es wäre sowieso kein Mord, ich würde der Natur nur ein bisschen auf die Sprünge helfen. Es ist die pure Bosheit, die ihn am Leben hält.“
Als der Tod des Vaters bekannt wird, ist Bobby tatverdächtig. Neben Bobby kommen in „Die Gesichter der Wahrheit“ 20 weitere Menschen zu Wort. Jeder mit einer eigenen meist problematischen Geschichte, jeder von der Immobilienkrise getroffen: Menschen, die in halb fertigen Häusern leben müssen, weil sie ihr gesamtes Geld in diese „Bauruinen“ gesteckt haben, Menschen, die arbeitslos wurden, deren Familien zerbrochen sind und Menschen, die sich schämen: Für ihr Verhalten, oder das ihrer Angehörigen.
Donal Ryan zeigt eine systemische Studie einer von der Krise getroffenen irischen Kleinstadt, in der Jeder Jeden zu kennen scheint oder glaubt, Jeden zu kennen. Ryan zeigt, wie Menschen über einander urteilen und wie sehr ihre Urteile vom eigenen Schicksal geprägt sind.
In jedem Kapitel kommt ein Protagonist zu Wort. Ein Teil der Geschichte und eine Facette der mehrdimensionalen Figur „Bobby“ zum Vorschein. Bobby, den Alle kennen, der in den Leben der Meisten eine mehr oder weniger wichtige Rolle spielt, oder einmal gespielt hat. Um Bobby dreht sich alles – von seiner Seite – unfreiwillig.
Erst am Schluss des Buches werden die zum Teil zum Reißen gespannten roten Fäden miteinander wieder so verwoben, dass das ganze Bild deutlich wird.
Ryans Roman lässt die große Hilflosigkeit und Wut (nach-) spüren, die die Menschen in Irland ergriffen haben muss. In der Geschichte können die Menschen Pokey Burke als den Schuldigen ausmachen. Durch sein unvernünftiges und verbrecherisches Vorgehen bringt er die Krise in die Gemeinde. Die großen Umstände dahinter sind zu vermuten.
Irlands „Hauspreisblase“ war durch künstliche Hypothekenpreise ausgelöst worden. Die Auswirkungen auf den einzelnen Menschen zeichnet Ryan exakt auf.
So heterogen die Menschen in der Gemeinde sind, so ist es auch ihre Sprache, ihre Art zu denken und so ist auch ihr Verhalten im System. Nach der Lektüre von „Die Gesichter der Wahrheit“ dachte ich, so könnte es gewesen sein. Ryan verwendet eine harte klare realistisch wirkende Sprache. Seine Geschichte ist fesselnd bis zum Schluss.
Hier wird nicht das Irland aus der Werbung mit den glücklichen Kühen und den grünen Weiden vorgestellt, sondern Menschen in Irland in der großen Wirtschaftskrise.
Eine ausgezeichnete dichte Geschichte in einer außergewöhnlichen Erzählform.
Herzlichen Dank an den Diogenes Verlag für das Leseexemplar.
Aufgewachsen bin ich mit Karl May. Tom Sawyer war ein Held meiner Kindheit. In Onkel Toms Hütte wollte ich einmal leben. Mein Hund sollte Jerry heißen.
Ohne zu Lesen geht es nicht. Dabei ist kein Genre ausgeschlossen. Ich liebe Geschichten mit Happy End.
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