Virale Ereignisse wie #Aufschrei oder die #meetoo – Debatte haben ein großes mediales Aufsehen erreicht. Die Einsicht, dass sexuelle Gewalt gegen Frauen nur möglich ist, wenn die Gesamtgesellschaft dafür die Möglichkeiten zur Verfügung stellt, ist nicht so groß, dass es die gesellschaftliche Ungleichbehandlung von Menschen aller unterschiedlichen Geschlechtsidentitäten aktiv abschaffen würde.
Letztlich sind der internationale Frauentag (seit diesem Jahr Feiertag in Berlin), Muttertag oder gar der Vatertag Maßnahmen zur Festigung von Geschlechtszuschreibungen und der herrschenden Zustände. Denn dadurch, dass diese Tage gefeiert werden, werden die Tage, in denen nicht einzelne Personengruppen gefeiert werden, zu Tagen, an denen sie ihren ganz üblichen Alltag leben – mit den Unterdrückungsmechanismen, die offensichtlich in unserer Gesellschaft normal zu sein scheinen.
Mir sind zufällig zwei Bücher in die Hände gefallen, bei denen ich gerade unter dem Eindruck des Gespräches mit den Kolleginnen meine Eindrücke von Unterdrückung als Prinzip im gesellschaftlichen Zusammenleben vertiefen musste, was mir gar nicht gut gefällt. Vor einigen Wochen stellte ich Paul Ingendaays Königspark vor, heute lege ich dir Stefanie Schleemilchs Morgengrauen ans Herz:
Morgengrauen
Agnes erinnert sich. An die Studienfahrt damals nach Berlin – Berlin, noch immer der große Traum.
Agnes erzählt – und beinahe wäre die Bemerkung über das Absetzen der Tabletten überlesen worden, so wie vieles, das Agnes zwischen den Zeilen sagt, oder nur in knappen Anspielungen. Bald wird deutlich: Agnes hat Probleme mit sich, noch mehr mit ihrer Geschichte; sie erinnert sich daran, wie sie nach Tübingen kam, sie erzählt, wie es Junkies geht. Sie erzählt von den Menschen, denen sie begegnet. Die Erinnerungen aus unterschiedlichen Zeiten und Erlebnissen fließen ineinander. Und so, wie Agnes von ihren Erlebnissen erzählt, wird das Bild von Agnes runder und nicht bunter, sondern die Grautöne erhalten zunehmende Tiefe und Kontrast.
Die Einladung nach Berlin bringt die Geschichte in den Fluss. Agnes hat eine Geschichte geschrieben und soll nun nach Berlin kommen, um die Geschichte zu einem Buch zu verarbeiten.
Verarbeiten…
Agnes war verliebt. Ist das nicht für viele der Beginn von weiterer Geschichte? Agnes beschreibt ihre Geschichte aus unterschiedlichen zeitlichen Perspektiven. Also mehr von den Folgen ihrer Verliebtheit und erst später die Erlebnisse ihrer ersten Liebe.
Vielleicht wird erst so deutlich, wie erschütternd es wirkt, wenn Vertrauen missbraucht wird, wenn Wahrnehmung getäuscht wird, so dass Mensch an sich und der Welt verzweifelt und dafür auch noch die Verantwortung übernimmt. Agnes fragt sich, wo sie falsch abgebogen ist in ihrem Leben – und macht sich verrückt mit den Erinnerungen und dem Stochern in der Vergangenheit. Auf dem Weg durch das Labyrinth ihrer Vergangenheit erzählt sie über die Zeit im Gymnasium, der Psychiatrie und der Uni. Und häufig bilden diese Stationen eher den Hintergrund als die Hauptbühne selbst.
Agnes lernt Menschen in der Psychiatrie kennen, sie selbst wird dort behandelt. Viel später wird sie sich im Gespräch öffnen, wird sagen, was ihr widerfahren ist. Sie wird entlassen werden, aber nicht heil sein. Wie sollte sie auch heil werden, wenn sich doch so vieles in ihr kaputt anfühlt? Und doch schafft Agnes ganz viel. Sie schafft es, ihre Geschichte aufzuschreiben. Sie überlebt und erlebt sogar, dass er sie wieder packt, dieser ominöse Lebensmut.
Pfff,
es ist schon echt schwer, über Morgengrauen zu schreiben, ohne vieles vorweg zu verraten. Ich weiß nicht, ob ich mehr, weniger oder anders berührt bin als Frauen oder andere Männer. Morgengrauen hat mich umgehauen.
Stefanie Schleemilch hat sehr dicht geschrieben, so dass es wirklich Aufmerksamkeit bedarf, die Kleinigkeiten und Hinweise zu lesen. An den nötigen Klarheiten lässt sie es nicht mangeln. Sie lässt Agnes erzählen, dass sie glaubte, dass sie dass sie etwas ertragen müsse, wenn sie richtig liebe. Dass sie sich deswegen gegen ihren Freund auch nicht zur Wehr gesetzt habe.
Agnes ist ein Beispiel dafür , dass viele Mädchen und Jungen so erzogen sind, dass Frauen überlegen, glauben oder zu wissen glauben, dass sie etwas falsch gemacht haben könnten und deswegen das Recht auf der Seite der Männer ist, sie zu bestrafen oder zu bespringen.
Agnes macht so deutlich, was an ihr wie gewirkt hat, dass ich fassungslos bin. Und staune. Vor der Sprachgewaltigkeit der einfachen Worte von Stefanie Schleemilch, vor dem Meer der Melancholie, in das mich das Buch hineinzieht und wie sehr ich eine Sehnsucht nach Verbesserung und Heilung entwickelt habe. Morgengrauen war eines von den Büchern, die ich nur ungern unterbrochen habe, weil ich wissen wollte, wie es weiter und zu Ende ging.
Am Ende bleibt, dass wir andere Menschen wichtig nehmen müssen, ihnen zuhören, zutrauen. Agnes schafft sich diesen Menschen, sie erzählt ihre Geschichte ihrer besten Freundin Victoria, indem sie ihre Geschichte aufschreibt. Sie weiß nicht, ob Victoria irgendwann diese Geschichte lesen wird, denn sie haben den Kontakt verloren. Dennoch weiß sie, dass Victoria sie wichtig nehmen würde. Und das hilft ihr.
Wir müssen etwas verändern in unserer Gesellschaft. Egal welchen Geschlechtes Mensch ist: Unterdrückung und Missbrauch – egal welcher Art, ist immer falsch. Dessen soll sich Agnes versichern und alle anderen Menschen auch.